Alles auf Anfang: Wie die Künstlergruppe „junger westen“ im Ruhrgebiet der Nachkriegszeit wirkte

Gruppenbild: "junger westen" mit Thomas Grochowiak (ganz links). (Kunsthalle Recklinghausen)

Gruppenbild: „junger westen“ mit (von links) Thomas Grochowiak, Heinrich Siepmann, Gustav Deppe, Ernst Hermanns und Hans Werdehausen. (Kunsthalle Recklinghausen)

Darüber darf man heute noch staunen: Ab 1947 erlangte die doch relativ kleine Ruhrgebietsstadt Recklinghausen eine Ausnahmestellung in der westdeutschen Kunstwelt. Hier fanden vor 70 Jahren die Protagonisten der alsbald so einflussreichen Künstlergruppe „junger westen“ zusammen, 1948 ließen sie sich ganz ordentlich ins Vereinsregister eintragen.

In jenen frühen Jahren wurde in Recklinghausen zudem ein alter Bunker zur Kunsthalle umgewidmet, der zum zentralen Ort dieser Formation werden sollte. Tatsächlich kamen die Impulse für diese Kulturstätte von den Künstlern selbst. Ein sehr profiliertes Mitglied der Gruppe, Thomas Grochowiak, war (als Nachfolger des 1952 früh verstorbenen Gründungsdirektors Franz Große-Perdekamp) über die Marathonstrecke von 1954 bis 1980 zugleich Leiter der Kunsthalle und der weiteren Städtischen Museen.

Im Revier verwurzelt und geerdet

Der „junge westen“ war eindeutig eine Angelegenheit des Reviers, er war personell und zunächst auch thematisch regional verwurzelt, was seine nationale und später auch internationale Wirkung nicht schmälerte. Jetzt widmet die Recklinghäuser Kunsthalle dieser Gruppierung eine sinnreich und liebevoll gestaltete Überblicks-Schau, die als Ausstellung zu den Ruhrfestspielen firmiert. Mehr Revier-Anmutung geht also kaum.

Ausstellungskatalog der Gruppe aus dem Jahre 1948. (Kunsthalle Recklinghausen)

Ausstellungskatalog der Gruppe aus dem Jahre 1948. (Kunsthalle Recklinghausen)

Der Rückblick auf die Gruppengründung vor 70 Jahren bringt es mit sich, dass sich jetzt sukzessive gleich mehrere Häuser im Ruhrgebiet dem „jungen westen“ widmen: das Märkische Museum (Witten), das Museum DKM in Duisburg, das Kunstmuseum Gelsenkirchen, das Kunstmuseum Mülheim und das Kunstmuseum Bochum steuern je eigene Aspekte bei, auch die Kunstsammlungen der Ruhr-Uni Bochum sind beteiligt. Den institutionellen Rahmen bildet das langfristige Kooperations-Projekt RuhrKunstMuseen.

Die gewichtigste Ausstellung des Gedenkjahres gebührt freilich Recklinghausen, wo allein schon die seit den späten 40er Jahren gewachsenen Eigenbestände eine großzügige Auswahl ermöglichen. Über 30 Leihgeber haben zudem Ergänzungen beigesteuert. Und so kommt es, dass man alle Phasen der Gruppe mit prägnanten Beispielen belegen kann.

Dauerhafter Zusammenhalt

Bemerkenswert dauerhaft, hielt sich der „junge westen“ als gemeinsame Plattform bis etwa 1962 (in dieser Phase endet auch der Fokus der Ausstellung), die entstandenen Freundschaften währten noch viel länger. Nie haben die einzelnen Künstler vergessen, dass sie ihre Werdegänge anfänglich der Gruppe zu verdanken hatten. So etwas gibt es heute praktisch nicht mehr, da waltet eher die von Galeristen und Sammlern entfesselte Marktkonkurrenz.

Thomas Grochowiak: "Scherzo Grazioso" (1948). (Märkisches Museum Witten)

Thomas Grochowiak: „Scherzo Grazioso“ (1948). (Märkisches Museum Witten)

Der Gruppenname „junger westen“ führt etwas in die Irre: Die Mitstreiter waren in der Gründungszeit um oder über 40 Jahre alt, sie hatten wertvolle Lebenszeit im verfluchten Krieg vergeudet.

Im Wesentlichen war es eine Entwicklung von der Gegenständlichkeit zur Abstraktion, die die einzelnen Künstler, aber auch die Gruppe „junger westen“ insgesamt vollzogen haben. So waren damals die Zeichen der Zeit, die in Recklinghausen nicht nur aufgenommen und gedeutet, sondern teilweise auch aktiv gesetzt wurden.

Die Ausstellung präsentiert das Schaffen der Künstler jeweils in persönlichen Werkblöcken, so dass sich die Entwicklung wie im Zeitraffer nachvollziehen lässt. Zum Kernbestand zählen diese sechs Gruppenmitglieder: Gustav Deppe, Thomas Grochowiak, Heinrich Siepmann, Emil Schumacher, Hans Werdehausen und Ernst Hermanns. Vier weitere treten flankierend hinzu: K. O. Götz (der heute als 103jähriger in Aachen lebt), Georg Meistermann, HAP Grieshaber und Emil Cimiotti.

Ja zur Zukunft mit Atomenergie

Der Blick dieser Künstler im allseits kriegsverwüsteten, buchstäblich ruinösen Land richtete sich entschieden nach vorn, es ging nicht so sehr um die Rehabilitierung als „entartet“ verfemter Künstler. Nein, man erstrebte eine gründliche Inventur, einen Neuanfang. Die Künstler vom „jungen westen“ wollten sich entschlossen einer besseren Zukunft zuwenden, zur Aufbruchsstimmung gehörte übrigens auch eine Bejahung des als friedlich gedachten Atomzeitalters. Keine Bomben mehr, sondern schier unerschöpfliche Energie…

Gustav Deppe: "Hochspannung" (1952). (Kunsthalle Recklinghausen)

Gustav Deppe: „Hochspannung“ (1952). (Kunsthalle Recklinghausen)

Schon 1950, also gerade mal fünf Jahre nach Weltkriegsende, gab es in Recklinghausen eine deutsch-französische Ausstellung zum künstlerischen Stand der Dinge – im Geist der Völkerversöhnung. Frankreich war das gelobte Land, Paris die Metropole, auf die alle schauten. Der Zeitgeist war mit ihnen. Und genau in diese Zeitstimmung kann man in Recklinghausen eintauchen.

Formwelt der Industrie

Praktisch alle Künstler beim „jungen westen“ haben damit begonnen, sich figurativ am industriellen Umfeld des Ruhrgebiets abzuarbeiten. Das Spektrum reicht von Starkstrommasten (Gustav Deppe) über Figuren wie den „Fördermaschinisten“ (Thomas Grochowiak) bis zum prosaischen Alltagsobjekt Küchenherd (Emil Schumacher).

Gustav Deppe war fortan der Einzige, der weitgehend im Gegenständlichen verharrte und den formalen Strukturen der technisch bestimmten Welt unermüdlich nachspürte; ein Umstand, der ihn vielleicht gerade jetzt wieder interessant macht. Man muss darin wahrlich keine Rückschrittlichkeit oder mangelnden Drang zu avantgardistischen Positionen sehen. Es ändern sich die Perspektiven. Heute schwört man längst nicht nur auf Abstraktion.

Heinrich Siepmann: "Komposition IV" (1954). (Kunstmuseum Mülheim/Ruhr - VG Bild-Kunst, Bonn)

Heinrich Siepmann: „Komposition IV“ (1954). (Kunstmuseum Mülheim/Ruhr – VG Bild-Kunst, Bonn)

Die Hauptströmung beim „jungen westen“ führte hingegen weg vom erkennbaren Gegenstand. Doch auch da gab es verschiedene Wege, manche Künstler sind eher dem Konstruktiven zuzurechnen, andere (allen voran Emil Schumacher) strebten in die gestisch-energetischen Gefilde des Informel.

Bis zum Tapeten-Entwurf

Dennoch haben sich die Künstler im „jungen westen“ einander dermaßen intensiv beeinflusst, dass individuelle Unterschiede zeitweise verblassten. Doch dann wieder strebten die Linien wieder auseinander. Ja, zuweilen geht es bei ein- und demselben Künstler mal hierhin, mal dorthin und wieder zurück. Eben dies verleiht der Zusammenstellung die nötige Spannung.

Ein weiterer Aspekt ist das durch den (mit Große-Perdekamp seit Schulzeiten befreundeten) Bottroper Josef Albers vermittelte Bauhaus-Gedankengut, in dessen Nachfolge sich der „junge westen“ sah. So lieferte man zwischendurch auch schon mal ganz selbstverständlich Musterentwürfe für Tapeten.

Zeitgeist in aussagekräftigen Fotografien

Nicht nur die rund 100 Kunstwerke, sondern speziell auch die zahlreichen, vielfach großformatigen Fotografien aus jener Zeit lassen den „jungen westen“ wieder aufleben. Fotos von Ausstellungs-Ereignissen der 50er Jahre zeigen im zeittypischen Ambiente, dass damals bei Eröffnungen etwa noch ganz locker geschwoft und geraucht wurde. Mit konservatorischen Bedenken hatte man es noch nicht so.

Emil Schumacher: "Libya" (1962). (Kunsthalle Recklinghausen)

Emil Schumacher: „Libya“ (1962). (Kunstmuseum Bochum)

Vor manchen dieser Dokumente kann man lange verharren und sinnieren. So beispielsweise vor einem Foto, auf dem offenbar hundert oder noch mehr uniformierte Polizisten in eine Ausstellung drängen, und zwar keineswegs in dienstlicher Absicht. Ein anderes Foto belegt, dass damals Kunst durchaus im Zusammenhang der Warenwelt auftauchen konnte, so auch direkt neben einer Miele-Waschmaschine. Eine Avantgarde traf gleichsam die andere, der Fortschritt schien unteilbar zu sein.

Wer sich viel Zeit nimmt, kann überdies eine große Stellwand mit einer zeitgenössischen „Presseschau“ Zeile für Zeile goutieren, so dass nicht nur den Schauwerten, sondern auch dem Diskursiven Genüge getan ist. Apropos Zeitung: Der FAZ-Kulturkorrespondent für NRW, Albert Schulze Vellinghausen, war es wohl, der der Gruppe publizistisch zum Durchbruch verhalf.

Museumsdirektor Prof. Ullrich nimmt Abschied – doch nicht so ganz

Die von Hans-Jürgen Schwalm und Stephan Strsembski kuratierte Ausstellung bedeutet übrigens auch für den Recklinghäuser Museumsbetrieb eine Zäsur. Es ist die letzte, die Prof. Ferdinand Ullrich als Direktor verantwortet. Er wird allerdings auch im so genannten „Ruhestand“ dem Ruhrgebiet treu bleiben und sicherlich mit Ausstellungs- und Buchvorhaben weiter von sich reden machen. Seine Dissertation hat Ullrich, der seine Laufbahn als Künstler (Meisterschüler bei Timm Ulrichs) und nicht als Kunsthistoriker begonnen hat, einst just über den „jungen westen“ verfasst. So rundet sich alles.

„Auf dem Weg zur Avantgarde. Die Künstlergruppe JUNGER WESTEN“.  Kunstausstellung der Ruhrfestspiele Recklinghausen in der Kunsthalle Recklinghausen (Große-Perdekamp-Straße 25-27). Vom 7. Mai bis zum 13. August 2017. Geöffnet Di-So & feiertags 11-18 Uhr, Mo geschlossen.

Infos zu Recklinghausen: www.kunst-re.de
Infos zu den weiteren Ausstellungen über den „jungen westen“: http://www.ruhrkunstmuseen.com/ausstellungen.html

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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