Experiment mit bösem Ende – Judith Kuckarts Roman fordert die Leser heraus

Kuckart BelgienEin gerade mal achtzehn Jahre alter Klavierschüler, der sich nicht so recht traut, sein Leben zu beginnen, bis es in Gestalt einer Frau in Polizeiuniform einfach zu ihm kommt. Abschiedsbriefe, in denen um die Rückgabe zurückgelassener Pfandflaschen gebeten wird. Zwei alte, nicht mehr ganz lebenstüchtige Damen, die einem Klavierlehrer Asyl in der Besucherritze ihres Hotelbettes gewähren. Ein Wunschkind, das nie geboren wird.

Und weiter: eine Schauspielerin, die mangels Engagement ihre Rollen im normalen Leben spielt. Und eben immer wieder der Klavierlehrer, der damit hadert, niemals Pianist gewesen zu sein. Der Klavierlehrer, mit dem auch alles begann – aber das erfährt man erst ganz zum Schluss.

Skurrile Gestalten in verschiedenen Stadien des Zweifelns bevölkern einen Reigen aus elf Episoden, aus denen sich Judith Kuckarts Roman „Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück“ zusammensetzt. Die in Schwelm geborene Absolventin der Folkwang Akademie für Tanz erzählt von flüchtigen Momenten, kurzen Begegnungen und von Wendungen durch unerwartete Momente, von Menschen, die „etwas Besseres verdient haben als die Wahrheit“. Manche dieser Menschen suchen ihren Platz im Leben, andere sind (vermeintlich) dort gerade angekommen, wieder andere sind auf dem Sprung, diesen Platz oder auch gleich das ganze Leben zu verlassen.

Zunächst wirken die Erzählungen wie unabhängig voneinander existierende Kurzgeschichten – erst allmählich erkennt man die (oft nur in Nebensätzen hingeworfenen) Zusammenhänge. Es ist ein spannendes Experiment, einen Roman wie einen aus short cuts zusammengesetzten Kinofilm zu schreiben.

Mit Interpretationen werden die Leser nie belästigt, dafür wissen sie mehr, als die handelnden Personen je erfahren werden. So kann man erkennen, dass nicht nur jeder mit jedem über wenige Ecken zusammengehört, sondern auch Liebe und Tod, Leid und Lust und immer wieder die Schuld zusammengehören. Auch wenn man dafür durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück.

Nur auf den ersten Blick besteht die Herausforderung darin, aufmerksam zu sein und die Fäden zusammenzufügen. Das jedoch ist weniger eine Herausforderung als eine Freude. Die viel größere Herausforderung für den Leser besteht darin, sich elfmal in eine neue Geschichte, in neue Personen einzufinden. Judith Kuckart ist bekannt für eine sehr zurückhaltende, vorsichtige Erzählweise und eine sehr langsame, nie die Distanz aufgebende Annäherung an ihre Charaktere. Dieser Schreibstil erschwert den Zugang. Hat man diesen aber erst einmal gefunden, entfalten ihre Romane einen betörenden Sog.

Es braucht fast immer mehr als die Hälfte einer Erzählung, bis man so halbwegs „drin“ ist – nur um kurz darauf erneut mit dieser Mühe zu beginnen. Der Erzählstil der Autorin ist eigentlich angenehm zurückhaltend, lyrisch und auf seine kühle Art durchaus auch berührend, für den vorliegenden Episodenroman aber denkbar ungeeignet. Der Roman ist zwar klug komponiert, aber man braucht nicht nur Geduld. Es braucht auch eine Menge guten Willen, der oft genug auch noch dadurch auf die Probe gestellt wird, dass die Vorgehensweise der Autorin, sich ihren Charakteren über die Oberfläche zu nähern, zu oft dazu führt, dass sie in Stereotypen verharrt.

Hat man aber durchgehalten und sich auch von der Erwartungshaltung gelöst, dass alle Fäden zusammengeführt werden, entschädigen die letzten beiden Abschnitte für die Mühe. Es schließt sich ein Kreis, wenn auch anders und bestürzender als gedacht und erhofft. Die letzte Episode gehört Katharina, der glücklosen Schauspielerin und Joseph, dem Klavierlehrer. Zwei Personen, die dem Schreibstil der Autorin entsprechen – rätselhaft, unnahbar, aber das Gegenüber in den besten Momenten in einen Sog hineinziehend, der für ein böses Ende sorgt. Dieses Ende beginnt mit einem gewagten Theaterexperiment, dem ein Experiment des Zusammenlebens folgt. Die auch vorher schon immer wieder aufgeworfene Frage nach der Bedeutung von Heimat gipfelt schließlich in dem Versuch, in einer Sehnsucht sesshaft zu werden.

Judith Kuckart: „Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück“. DuMont, Köln, 219 Seiten, €19,99.

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