Ein Kaufhaus erfüllt nicht alle Wünsche – der neue Roman von Judith Kuckart

Silvester im Bungalow. Jazz-Produzent Karatsch lädt ein. Seine Frau Vera hat Geburtstag. Wie in jedem Jahr werden Mettbrötchen geschmiert und der Videorecorder wird programmiert. Wie in jedem Jahr werden sich die immer gleichen Gäste einfinden, um den immer gleichen Film anzuschauen.

Einen Film, in dem Hausherrin Vera als junges Mädchen gemeinsam mit Jugendfreund Friedrich die Hauptrolle spielte. Auch Friedrich wird wieder unter den Gästen sein. Friedrich, der den schönen Nachnamen Wünsche trägt, hat gemeinsam mit seiner exzentrischen Schwester Meret das gleichnamige Kaufhaus geerbt. Er will im neuen Jahr alles daransetzen, dass das Kaufhaus Wünsche seinem Namen wieder gerecht wird. Vera indes hat andere Wünsche. Wünsche, die sie sich nicht einfach in der Damenabteilung des Kaufhauses erfüllen kann. Es ist ihr Leben, das ihr nicht mehr passt, das ihr zu eng geworden ist.

Unter falschem Namen nach London

Einer Eingebung folgend geht sie an diesem Silvester ins örtliche Hallenbad, sie hat die vage Hoffnung, sich dort freischwimmen zu können. Sie hilft dem Zufall nach und „findet“ den Ausweis einer fremden Frau. Kurz entschlossen nimmt sie deren Identität an und kehrt nicht nach Hause zurück. In das Zuhause mit den Mettbrötchen, dem Film und dem Ehemann, der früher ihr Pflegevater war.

Wünsche, Judith Kuckart

Stattdessen nimmt sie den nächsten Flug nach London. Seit sie dort einmal mit Meret Wünsche war, ist London ihr Sehnsuchtsort. Doch so wie die Freundschaft mit Meret eher eine gelebte Rivalität war, ist auch London und der Versuch eines ganz anderen Lebens nur eine Illusion. Zunächst fällt sie in frühere schlechte Angewohnheiten zurück, wird zur Kurzzeit-Kleptomanin und betätigt sich schließlich als Hilfskrankenschwester. Zumindest die Dementen, die sie dort gepflegt hat, „werden sie für den Rest ihres Lebens nicht mehr vergessen“. Vera erhält selten Lob, auch dieses ist eher fragwürdig.

Aus dem bisherigen Leben aussteigen

Desillusioniert erkennt Vera schließlich ihre Lebenslüge: „Richtig Schauspielerin zu sein, hätte bedeutet, mich anstrengen zu müssen, eine ganz andere zu sein.“ Sie kehrt resigniert nach Hause zurück. Sie kann keine andere sein, sie „kann nur als die leben, die alle kennen“. Vielleicht war sie auch einfach nur zu lange zu vorsichtig mit ihren Wünschen.

Die Geschichte von Vera steht im Mittelpunkt des Romans „Wünsche“. Doch auch die Daheimgebliebenen suchen einen Neuanfang nach etlichen, vorher auf unterschiedlichste Art gescheiterten Versuchen. Friedrich Wünsche will aus seinem zwar erfolgreichen, aber ihn langweilenden Manager-Leben aussteigen. Er will das Kaufhaus wieder den Wünschen seiner Käufer und den Traditionen der Familie Wünsche zuführen. Sein bemühtes Credo: „Neue Zeiten brechen an, indem wir die Zeit zurückdrehen.“ Meret Wünsche ist die auffälligste Figur im Roman, Agent Provocateur unter den mutlosen und angepassten Bürgern der Stadt. In ihrem bisherigen Leben hat sie zwischen Dekadenz und Verwahrlosung geschwankt, noch immer weiß sie nicht, wo sie hin will. Allenfalls hat sie eine leise Ahnung, wie sie das ihr gegebene Talent nutzen könnte.

Zufrieden mit den Mettbrötchen

Veras Ehemann und Ex-Pflegevater Karatsch hingegen ist eigentlich ganz zufrieden mit den Mettbrötchen und dem Leben im Bungalow. Große Sorgen macht er sich nicht um seine verschwundene Ehefrau. Er ist sich sicher, dass sie noch lebt, aber er versteht sie nicht. Zufällig findet er ihre Spur und macht sich samt Sohn Jo und Friedrich auf nach London, just in dem Moment, als Vera schon fast wieder zuhause ist. Auf dem Rückweg erleidet er einen Schlaganfall. Anstatt wie geplant in Dünkirchen Muscheln zu kaufen, lernt der zu spät gekommene Suchtrupp die dortige Notaufnahme kennen. So ist ironischerweise derjenige, der am wenigsten Veränderung wünschte, am Schluss der, der die größte Veränderung hinnehmen muss.

Die Autorin Judith Kuckart ist in Schwelm geboren. Auch wenn der Schauplatz ihres neuen Romans nicht namentlich genannt wird, einige Hinweise deuten daraufhin, dass man ihn wie den Geburtsort der Autorin am Rande des Ruhrgebiets ansiedeln darf. Auf jeden Fall spielt die Enge einer Kleinstadt, in der jeder jeden schon seit der Kindheit kennt, eine entscheidende Rolle im Buch. Es geht zwar um die ganz großen Themen: die Sinnkrise auf halber Strecke des Lebens, den Unterschied zwischen Wunsch und Sehnsucht und die Frage nach Heimat. Doch die Protagonisten sind zu gefangen in der erlernten Provinzialität. Ihnen gelingt kein großer Befreiungsschlag, es sind eher halbherzige Versuche, der vorgezeichneten Tristesse zu entkommen.

All die verpassten Chancen

„Wünsche“ spiegelt das Leben als Summe der nicht ergriffenen Chancen, für die es jetzt zu spät ist. Das Kaufhaus Wünsche ist das auffälligste Sinnbild im Roman. Das Leben gleicht in der Regel keinem Warenhaus, so schnell findet man keinen Bon, der zum Umtausch berechtigt.

Zum Ende hin finden sich alle Figuren in der Provinz wieder, um einige Illusionen ärmer. Es bleibt offen, wie sehr die Geschehnisse in diesem Jahr die Protagonisten verändert haben und ob dies überhaupt der Fall ist. Nur der Weg derjenigen, die den größten Ausbruchsversuch gewagt hat, ist vorgezeichnet. Vera wird ihren Mann pflegen müssen. Das hat sie ja in London bereits geübt. So fesselt genau das, was sie in diesem Jahr versucht hat, sie noch enger an ihr altes Leben.

Judith Kuckart lebt heute in Zürich und Berlin. Von 1986 bis 1998 leitete sie das von ihr gegründete Tanztheater Skoronel, konzentriert sich aber heute erfolgreich auf ihre Arbeit als Regisseurin und Autorin. Ihre Sprache ist melodisch und rhythmisch, am Beginn des Romans wird der Leser sehr schnell in einen eigenartigen Sog gezogen, der sich leider irgendwann einfach verflüchtigt. Viel zu schnell kommt ein Moment, in dem die Geduld überstrapaziert wird. Es sind der Zufälle zu viele, die schicksalhaften Begegnungen im Roman sind zu konstruiert, als dass sie noch glaubwürdig erscheinen mögen. Auch die Tragik in den Nebenschauplätzen wird zuviel, zumal der Eindruck entsteht, sie würden nur als Stimmungswerte benutzt.

Metaphern wie aus dem Sonderangebot

Zu Beginn gefallen die Bilder, die Judith Kuckart erzeugt, aber schnell ist man ihrer überdrüssig. Man hat fast den Eindruck, Metaphern wie das flüsternde Universum oder die hörbar glitzernden Augen habe es im Sonderangebot gegeben. Dazu kommt, dass manche Sätze einfach wie die Ausformulierung bekannter Sinnsprüche anmuten. Ganz großen Wert legt Vera auf ihr Credo: „Wenn man glücklich ist, weiß man oft nicht, dass man glücklich ist. Aber hinterher weiß man es. Wenn man traurig ist, weiß man immer genau, wie traurig man ist.“ Richtiggehend stolz ist sie auf diese Erkenntnis. Dumm nur, dass dies schon lange vor ihr Colette etwas prägnanter formulierte: „Was für ein herrliches Leben hatte ich. Ich wünschte nur, ich hätte es früher bemerkt.“

Insofern gleicht die Erzählung durchaus einem Rundgang durch das Kaufhaus Wünsche. Nach dem Rundgang ist die Rechnung zu zahlen, dem Glücksrausch beim Kauf folgt die Ernüchterung. Am Anfang hat man noch eine gewisse Sympathie für Vera, doch am Ende findet man sie und ihre Manierismen einfach nur unsympathisch und wird ihrer überdrüssig. Als Leser wird man sich bis zum Schluß auch nicht klar darüber, ob man die handelnden Personen überhaupt mag. Zumindest in dem Punkt hat man sich dann ganz gut in den Roman eingefühlt, denn auch in der Erzählung wissen die miteinander auf Gedeih und Verderb verwobenen Protagonisten nicht recht, ob sie einander mögen. Es sind schon oft eher Verwünschungen als Glückwünsche, die sie miteinander verbinden – entgegen den hehren Absichten des Herrn Wünsche. Vielleicht sollten sie alle auf Epikur hören: „Wenn du einen Menschen glücklich machen willst, dann füge nichts seinem Reichtum hinzu, sondern nimm ihm einige von seinen Wünschen.“

Judith Kuckart: „Wünsche“. Roman. DuMont Buchverlag. 301 Seiten, €19,99

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