„Ralf Rothmann, geboren 1953 in Schleswig, aufgewachsen im Ruhrgebiet…“ Solche Klappentext-Auszüge aus der Vita lassen lesende Revierbürger seit langer Zeit aufhorchen, denn allzu viele literarische Eigengewächse von Rang und Namen haben wir hier ja leider nicht. Und so kommt man von Zeit zu Zeit gern auf den Autor von „Milch und Kohle“ (sowie etlicher anderer Romane) zurück, der doch schon seit 1976 in Berlin lebt.
Jetzt hat Rothmann einen Band mit Erzählungen vorgelegt. In „Hotel der Schlaflosen“ zeigt er, welche staunenswerte Bandbreite sein Schaffen schon in der kleineren Form umfasst. Allein die Vielfalt der Schauplätze und des Personals verlangt wendige gestalterische Potenz von höheren Graden.
Jede Erzählung führt uns in eine andere und schließlich doch immer wieder in dieselbe Welt, denn da muss es doch wohl tiefere innere Zusammenhänge geben. Die aber haben die Lesenden zu erkunden, der Schreibende wird sie klugerweise nicht vorgeben. Eins aber wird vielfach klar: Um eine Formulierung Rothmanns aufzugreifen, mutet das Leben den Menschen oft reichlich viel „Punk“ zu. Früher hätte man wahrscheinlich vom „Jammertal“ auf Erden gesprochen.
Monolog eines stalinistischen Exekutors
Da folgen wir also einer Geigerin auf ihren letzten Wegen nach einer niederschmetternden ärztlichen Diagnose. Da ertragen wir – in der titelgebenden Geschichte „Hotel der Schlaflosen“ – den furchtbar abgründigen Monolog eines Mannes, der in einem stalinistischen Tötungs-Kommando massenhaft Exekutionen ausführt. Da erfahren wir von der grausam verpfuschten Jugend einer Frau, die ihres Lebens nimmer froh werden wird. Resignierender Titel dieser Erzählung: „Auch das geht vorbei“. Die spätere Story „Alle Julias!“ kontrastiert das seitherige Leben zweier ehemaliger WG-Genossinnen und oszilliert zwischen Geplapper, dürrer Hoffnung und stummer Verzweiflung.
Zwischendurch hat „Der dicke Schmidt“ seine zunächst rabiaten, dann aber anrührenden Auftritte. Für seine behinderte Tochter kämpft sich dieser Mann als Oberpolier beim Bau ruppig durchs Leben. Folgt eine ganz anders geartete Episode, eine bizarre Persiflage auf Berlin zur Zeit der Mauer – leichthändig durchgespielt anhand eines Filmprojekts und seiner Komparsen. Welch eine Farce, die die zeitgeschichtlichen Umstände verzerrspiegelt!
…und noch so ein gescheitertes Frauenleben
Tragisch endet hingegen die auch pferdefachsprachlich ausgefeilte Erzählung über „Admiral Frost“, einen Deckhengst, der – per „Natursprung“ (und nicht via Samenspritze) – eine Stute begatten soll, was als durchaus animalischer, gewaltsamer Akt geschildert wird. Auch hier schimmert letztlich wieder ein kläglich gescheitertes Frauenleben hindurch – und es stellt sich mit ziemlicher Härte die Klassenfrage; wie denn überhaupt in diesem Band gar deutlich wird, wie durchlässig die gesellschaftlichen Schichten (geworden) sind – zumeist nach unten hin und zuweilen ins Bodenlose.
Weit, weit hinaus führt „Die Nacht in der Wüste“. Ein ergrauter deutscher Biochemie-Dozent, tätig in La Paz (Bolivien), nimmt eine junge deutsche Tramperin auf abenteuerlichen Wegen durch Mexiko mit. Das Land, so zeigt sich in drastischen Szenen, ist noch ungleich gewaltsamer als zu jener Zeit, als der Tochter des Biochemikers etwas widerfahren ist, was nicht konkret benannt wird. Aber man kann es sich denken. Die Tramperin freilich scheint trotzig entschlossen, ihren Weg allein fortzusetzen. Wenn das denn eine Hoffnung sein soll, so wagt sie sich nur scheu hervor und hat sich geschickt camoufliert.
Ein versoffener Bestatter in Ruhrgebiet
Schließlich, in der vorletzten Geschichte, eine „Rückkehr“ ins Ruhrgebiet. Hier geht es um den versoffenen Bestatter Egon, der seinen Vater sehr früh durch ein Zechenunglück verloren hat und nun – mit über 70 Jahren – aufbricht, um bei einer erneuten Grubenkatastrophe in Bottrop seine Dienste anzubieten… Auch dies eine herzzerreißende Handlung, durch keinerlei Moral oder gar segensreichen Trost gemildert.
Warum wir fast alle Geschichten kurz erwähnt haben? Weil man beim Lesen jede neue gleichsam als Bereicherung und Erweiterung der vorherigen begrüßt – und sei sie noch so schmerzlich. Weil man am Ende eigentlich keine einzige missen möchte. Weil Ralf Rothmann allerlei erzählerische und sprachliche Klippen gekonnt umschifft, wobei er aus wechselnden Lebenslagen keine „Lehren“, wohl aber Essenzen gewinnt.
Am Ende haben ja vielleicht sogar die Pelikane, die Rothmann in mehreren Geschichten erwähnt, etwas Besonderes zu bedeuten. Oder kommen sie etwa nur zufällig vor? Da haben wir es, das Pelikan-Problem.
Ralf Rothmann: „Hotel der Schlaflosen“. Erzählungen. Suhrkamp-Verlag. 206 Seiten, 22 Euro.