Den Lack der Lügen abkratzen – Toni Morrisons schonungsloser Roman „Gott, hilf dem Kind“

Lula Ann wird mit tiefschwarzer Haut geboren. Die Ehe ihrer Eltern, die nur kaum wahrnehmbar dunkelhäutig sind und oft als Weiße gelten, geht darüber zu Bruch. Das von allen gedemütigte Mädchen wird später einen neuen Namen annehmen und als Bride in der Modebranche Karriere machen.

Doch die Vergangenheit holt sie ein. Denn sie kann nicht vergessen, dass sie als Kind vor Gericht erscheinen musste, um eine Lehrerin hinter Gitter zu bringen, die sich – angeblich – an Schülern vergangen hat und die, als sie nach 15 Jahren wieder aus dem Gefängnis entlassen wird, Bride fürchterlich verprügelt.

Außerdem verliebt sich Bride in einen zwielichtigen und gefährlichen Mann. Als sie sich ins Auto setzt, um seinem Geheimnis auf die Spur zu kommen, verletzt sie sich – irgendwo im Nirgendwo – bei einem Unfall. Gefunden und gerettet wird sie von zwei Alt-Hippies, Aussteigern, die sie beherbergen und umsorgen, als wäre ihre uneigennützige Menschenfreundlichkeit das Natürlichste der Welt.

Wohl keine andere US-amerikanische Autorin hat den Rassenkonflikt über Jahrzehnte hinweg so konsequent und leidenschaftlich beschrieben wie die 1931 in Lorain/Ohio geborene Schriftstellerin Toni Morrison. „Sehr blaue Augen“, „Solomons Lied“, „Jazz“, „Menschenkind“ und „Paradies“ gehören zu ihren wichtigsten Büchern. Für ihr umfangreiches Werk wurde Toni Morrison 1993 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Im Mittelpunkt ihres neuen Romans, „Gott, hilf dem Kind“, stehen zweifelnde, zugleich sensible und selbstbewusste Frauen und die verschiedenen Arten, sich von den Furien der Vergangenheit zu befreien und seinen eigenen Weg zu gehen.

Toni Morrison erzählt mit kräftigen Bildern und in poetischer Sprache eine ergreifende Geschichte, die voller emotionaler und intellektueller Fallstricke steckt. Sie ist voller Leidenschaft und geht an die Schmerzgrenze: Denn sie zeigt uns ein immer noch tief gespaltenes, widersprüchliches und rassistisches Amerika, in dem die Hautfarbe oft über Wohl und Wehe, Reichtum und Armut, Bildung und Karriere entscheidet, Familienzusammenhänge aufgelöst und Identitätsfindungen zerstört.

Gottvertrauen mag helfen, um sich zu befreien. Doch wichtiger noch ist der Mut, sich seinem eigenen Versagen und seiner eigenen Schuld zu stellen. Lula Ann muss durch die seelische Hölle gehen, sämtliche Selbstgewissheiten infrage stellen und den Lack der Lügen von ihrem bisherigen Leben abkratzen. Toni Morrison beschreibt diesen schmerzhaften Prozess mit gnadenloser Präzision.

Toni Morrison: „Gott, hilf dem Kind“. Roman. Aus dem Englischen von Thomas Piltz. Rowohlt Verlag, 204 Seiten, 19,95 Euro.

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