Daniel Paul Schrebers Wahnvorstellungen – „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ in Bochum uraufgeführt

Raphaela Möst, Simin Soraya,  Therese Dörr, Veronika Nickl (v.l.)  (Foto: Vincent Stefan/Schauspielhaus Bochum)

Alle tragen sie zu Beginn hohe schwarze Zylinder. Doch bei vier Personen lugt unter dem Gehrock ein Damenkleid hervor. Eine Holzvertäfelung verheißt Gemütlichkeit, doch das eigentümliche Gebilde in Bühnenmitte, Konzertflügel ebenso wie Billardtisch, irritiert. Auf den zweiten Blick ist hier vieles nicht so, wie es sein sollte, auch die Beziehungen zwischen den Personen sind es schon bald nicht mehr. Wer ist hier Arzt, wer Patient? „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ ist das Stück betitelt, das nun im Bochumer Schauspiel seine Uraufführung erlebte.

Therese Dörr (Foto: Vincent Stefan/Schauspielhaus Bochum)

Acht Jahre in der Anstalt

Die „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“, denen Stefan Wipplinger und Fabian Gerhardt (auch Regie) in Bochum eine dramatische Form geben, verfasste zwischen 1894 und 1902 der Psychiatriepatient Daniel Paul Schreber, während seines Aufenthaltes in der Anstalt Sonnenschein. Dieser zweite Psychiatrieaufenthalt währte lange acht Jahre. Vater des Patienten war übrigens der nicht unumstrittene Orthopäde und Begründer der Schrebergarten-Bewegung, Dr. Moritz Schreber.

Bis zu seiner erneuten Erkrankung war Schrebers Karriere steil nach oben verlaufen. Trotz eines sechsmonatigen Klinikaufenthaltes 1884/1885 war er 1893 zum Senatspräsidenten am Oberlandesgericht Dresden ernannt worden, zu Sachsens oberstem Richter mithin. Doch im Herbst desselben Jahres kehrte die Geisteskrankheit zurück, diesmal endgültig.

Strahlensystem und Nervenschwingungen

Schreber hörte Stimmen, stand durch ein Strahlensystem mit Gott in Verbindung, war der Überzeugung, dass Nervenschwingungen den Urgrund allen Seins bildeten und so fort. Sein Verdienst liegt darin, diesen Wahnideen in seinem 1903 veröffentlichten Text brillant und in sich schlüssig Ausdruck gegeben zu haben.

„Seit Freud und Lacan sind Daniel Paul Schreibers Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken das meistzitierte und meistinterpretierte psychopathologische Zeugnis der abendländischen Psychiatriegeschichte“, ist dem Programmheft (in den Worten Martin Stingleins) zu entnehmen. Sigmund Freud, Elias Canetti und andere beschäftigten sich mit Schrebers Text.

Jürgen Hartmann, Raphael Möst, Therese Dörr, Günter Alt (v.l.) (Foto: Vincent Stefan/Schauspielhaus Bochum)

Auf der Bühne bleibt von dem komplexen Gedankengebäude des Kranken nicht gar so viel übrig. Das bühnentauglichste Motiv ist offenbar Schrebers Wunsch, eine Frau zu sein. Wegen seiner im gesamten Kosmos einmaligen Nähe zu Gott, so argumentiert er, müsse er in der Lage sein, den göttlichen Keim zu empfangen, um einen Erlöser zu gebären.

Siegmund Freud erkannte in Schrebers Paranoia „das Auftreten einer femininen (passiv homosexuellen) Wunschphantasie“. Zudem gab es mit dem Psychiater Dr. Paul Emil Flechsig neben Vater Schreber einen weiteren Mann im Leben des Patienten, auf den sich unterdrückte homosexuelle Wünsche gerichtet haben könnten.

Die Stimmen kann man nicht verbieten

Live-Musik – eher verhalten, suchend – spielt Michael Emanuel Bauer mal auf dem Flügel, mal auf dem Kinderklavier. Die mit Schnurrbärten und bunten Röcken absichtsvoll widersprüchlich gewandete Damenriege (Raphaela Möst, Simin Soraya, Therese Dörr, Veronika Nickl) bildet einen eindrucksvollen, facettenreichen polyphonen Chor der Stimmen, die gleichzeitig locken und verbieten, aber selten ruhig sind. Mal sind sie aber auch, gewandet als phantasievolle Flatterwesen, „Gott“ oder doch wenigstens die Verbindung zu ihm, mal tumbe Protokollanten, die alles aufschreiben, ohne es zu verstehen. Und mal auch vierfaches weibliches Alter Ego, das tun darf, was der Patient gern tun würde. Wie sie flirren und gurren und einfach oft nur lästig sind, geben sie den Qualen des armen Schreber bildhaft Ausdruck.

Günter Alt, Jürgen Hartmann, Simin Soraya (v.l.) (Foto: Vincent Stefan/Schauspielhaus Bochum)

Vielleicht könnte man ihnen vorwerfen, insgesamt gesehen zu lustig zu sein, zumal es für das Leiden kein adäquates Schauspiel gibt, sondern nur gut gesetzte Videobilder (Vincent Stefan). Andererseits tut der gemessen heitere Grundton dieser Inszenierung dem Stückverständnis gut; es reicht, das Leiden in einer Psychiatrie des 19. Jahrhunderts mit ihren Irrenwärtern und Kaltwasser-Schockbehandlungen, wie hier, nur anzudeuten.

Gediegene Konversation

Doktor und Patient, zwei Herren erkennbar aus besseren Kreisen, pflegen meist den gediegenen Konversationston. Der eine fragt, der andere weiß; immer wieder, ein Spiel, tauschen sie ihre Rollen, und einmal auch kreuzen sie die Klingen vor dem Billardtisch, die hier aber lediglich die Queues sind. Ein symbiotisches Verhältnis, in welchem man dem etwas fülligen Günter Alt den allmächtigen Psychiater eher abnimmt als dem schlankeren Jürgen Hartmann, der letztlich doch der Patient bleibt. Der war er schon gleich zu Beginn, als er sich dem Publikum vorstellte.

Trotz projizierter Kapitelüberschriften (wohl aus dem Originalbuch) ist die chronologische Struktur locker gehalten, wirkt die Darbietung über längere Strecken hin eher wie ein Tableau des Ungeheuerlichen, als wie ein Stufenmodell des Niedergangs. Dem Titelhelden, und das ist fraglos eine Qualität dieser Inszenierung, merkt man in all seiner Not doch auch an, dass er ein Kämpfer ist, ein systematischer Denker, ein schlauer Kopf, und sein Anderssein (vielleicht auch: seine Verrücktheit) nicht als Totalverlust ertragen will.

Könnte man ihm heute helfen?

Eindrucksvoll schließlich geriet das Bühnenbild Christian Wiehles, das neben sparsamer Möblierung von Fransenvorhängen geprägt ist, die gleichsam die Allgegenwart von unendlich vielen Nervenbahnen symbolisieren. Die Vorhänge ermöglichen der Damenriege sogar Andeutungen von „Show-Acts“, heiter wie sinnfällig.

Eine ernsthafte, neugierige Inszenierung ist Stefan Wipplinger und Fabian Gerhardt in Bochum gelungen. Vielleicht wäre es schön gewesen, aus heutiger Sicht eine Diagnose zu hören, vielleicht auch eine Antwort auf die Frage, ob und wie man diesem Patienten heute helfen könnte. Doch mit solchen Themenstellungen wäre es ein anderes Stück geworden. Für dieses Stück und seine präsent agierende Darstellerriege jedenfalls gab es lang anhaltenden, begeisterten Applaus.

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