Überhitzte Phantasien – Zu Martin Walsers höchst umstrittenem Roman „Tod eines Kritikers“

Von Bernd Berke

Nun ist es also entschieden, gestern hat man sich in Frankfurt „trotz Bedenken“ dazu durchgerungen: Der Suhrkamp-Verlag bringt Martin Walsers heftig umstrittenen Roman „Tod eines Kritikers“ am 26. Juni auf den Markt. Walser sagte, dies sei „ein Grund zur Freude“. Doch damit dürfte die Debatte noch lange nicht beendet sein. Im Gegenteil.

In der ARD-Talkshow „Boulevard Bio“ geriet das Thema späten Dienstag Abend sozusagen auf die allerhöchste Ebene: Sowohl Bundeskanzler Gerhard Schröder als auch Literaturnobelpreisträger Günter Grass nahmen (jeweils ohne das Buch zu kennen) Walser gegen Antisemitismus-Vorwürfe in Schutz.

Äußerungen von Kanzler Schröder, Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki

Zur selben Zeit äußerte sich im ZDF der in Walsers Roman karikierte „Kritiker-Papst“ Marcel Reich-Ranicki genau gegenläufig. In seiner „Solo“-Sendung sah er sich gezwungen, quasi in eigener Sache Stellung zu beziehen. Walsers Text, so Reich-Ranicki, habe ihn „tief getroffen, denn er sei „in hohem Maße antisemitisch“. Viele Feuilletons sähen das ähnlich, nur nicht das der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ). Warum? Reich-Ranickis Verschwörungstheorie: Dort seien drei Redakteure am Werk gewesen, die vormals bei der „Frankfurter Allgemeinen“ (FAZ) tätig waren – unter Leitung von Frank Schirrmacher, der jetzt den Vorabdruck des Romans in der FAZ abgelehnt hatte. Wollten die SZ-Leute etwa Rache am Ex-Chef nehmen?

Unsinniger Antisemitismus-Vorwurf

Abgesehen davon, dass sich einige gewichtige Stimmen pro Walser erhoben haben (u.a. auch Sigrid Löffler, Reich-Ranickis langjährige Mitstreiterin beim „Literarischen Quartett“), liegt wohl eine andere Hypothese näher: Frank Schirrmacher hätte danach seinen einstigen FAZ-Ziehvater“ Reich-Ranicki in (vorauseilendem?) Gehorsam vor Walsers Text bewahren wollen und in der gerade heißlaufenden Möllemann-Debatte einen idealen Anknüpfungspunkt für seinen Antisemitismus-Vorwurf gegen den Autor gesehen. Seither nimmt die Diskussion hysterische Züge an.

Nach eingehender Lektüre der (vom Verlag per e-Mail übermittelten) Suhrkamp-Druckfahnen zum strittigen Roman lässt sich jedoch glasklar feststellen: Dieser Text ist n i c h t antisemitisch!

Allerdings enthält er einige Überzeichnungen zum Machtgehabe eines TV-Kritikerfürsten, der hier „André Ehrl-König“ heißt. Walser gibt zu, für diese Figur habe Reich-Ranicki Pate gestanden. Auch mögen Überdruss und sogar Hass seine Feder geführt haben. Jedenfalls gerät im Roman ein von Ehrl-König via TV „verrissener“ Autor namens Hans Lach in Verdacht, sich für die Schmach mit einem Mord gerächt zu haben.

Klippschul-Stoff: Autor und Figur sind zweierlei

Aus Hans Lachs (mehrfach gebrochener, überblendeter) Innen-Perspektive werden mögliche Motive erwogen, werden Fragen von Schuld und Sühne aufgeworfen. Worauf es aber ankommt: Jener Ehrl-König wird eben keineswegs als Jude attackiert, sondern als anmaßender Kritiker, der nur das vernichtende „Entweder – Oder“ kennt. Seine Machttechniken werden in aller Verzerrung zur Kenntlichkeit gebracht.

Bereits in den Klippschulen der Literatur-Betrachtung wird gelehrt, dass man einen Schriftsteller und seine Figuren nicht verwechseln sollte. Gleichwohl hat Reich-Ranicki im ZDF Walser höchstselbst Mordgelüste vorgehalten. Oha! Wollte man allen Autoren der Weltliteratur die Aussagen ihrer Figuren als persönliche Schuld zur Last legen, so säßen die meisten lebenslänglich im Knast.

Eine andere Frage ist die nach der literarischen Qualitat. Gewiss wird Walser einkalkuliert haben, dass man sich über die Schlüssel-Figuren ereifern würde. In der oder jener Gestalt mag man z.B. Reich-Ranickis alten Freund-Feind Walter Jens oder auch den (derzeit schwer erkrankten) Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld erkennen. Walser schwelgt streckenweise derart in solchen Bezügen und überzogenen Parodien, dass man eine „Bierzeitung“ zur Erheiterung literarischer Zirkel zu lesen glaubt. Manches in diesem Roman ist arg wiederholungsträchtig, anderes verliert sich nebulös zwischen literarischer Mystik und „Umwertungs“-Drang à la Nietzsche. Aber nur mit maßlos überhitzter Phantasie kann man darin „Antisemitismus“ aufspüren.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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