Die bittere Wirklichkeit – Das bewegende Sozialdrama „My Name is Joe“ von Ken Loach

Von Bernd Berke

Da schau her! Franz Beckenbauer ist über und über mit Dreck bespritzt. Auch hatten wir ihn gar nicht so fett, faul und kahlköpfig in Erinnerung. Wie eine bleierne Ente watschelt er übers Fußballfeld.

Es verhält sich ja auch ganz anders: Die Namen des siegreichen deutschen WM-Teams von 1974 (SeppMaier, Beckenbauer, Breitner, Hölzenbein & Co.) stehen in Ken Loachs Film „My Name is Joe“ auf den schmutzigen Trikots der schlechtesten Gurkentruppe Schottlands.

Dies ist keine groteske Anmaßung der Freizeit-Kicker, sondern selbsttherapeutische Bemühung: Denn lauter trinkfeste Kleinkriminelle aus Glasgows übelsten Ecken wollen in dieser Truppe neuen Gemeinschaftsgeist, Selbstbewußtsein und Hoffnung schöpfen. Beim Bolzen verlieren sie sowieso immer. Und in der Gesellschaft sieht’s nicht besser aus.

Du hast keine Chance, also nutze sie

Trainer der Jungs ist logischerweise nicht Helmut Schön, sondern besagter Joe, seit ein paar Monaten „trockener“ Alkoholiker. Er lebt von der „Stütze“, die ihm eines Tages gekürzt werden soll – nur weil er aus Gefälligkeit die Wohnung der Sozialarbeiterin Sarah gestrichen, also angeblich schwarz gearbeitet hat. Schon ein halbwegs normales Leben aufrechtzuerhalten, ist in diesem Milieu eine ungeheure Leistung.

Diese bittere Erfahrung macht auch Liam, einer von Joes Fußball-Schützlingen. Seine süchtige Freundin Sabine, mit der er unter desolaten Verhältnissen ein Baby großziehen will, hat Schulden beim Drogenkartell des Viertels. Liams „Wahl“: Entweder muß Sabine das Geld als Prostituierte abarbeiten, oder er selbst muß Drogen an Kids verkaufen, widrigenfalls man ihm beide Beine brechen wird. Katastrophale Aussichten für eine junge Familie. Du hast keine Chance, also nutze sie…

Nun springt sein Trainer Joe in die Bresche. Um Liam und dessen Familie zu retten, legt er sich mit den Drogengangstern an. Bestürzend düstere Szenenfolgen entstehen aus dieser Konfrontation. Die Kamera mengt sich mitten ins deprimierende Geschehen, als wolle sie am liebsten helfend eingreifen. Man bekommt es wahrhaftig mit der Angst zu tun. Wie denn überhaupt der schonungslose Realismus dieses Films, der sich zwischen Hoffnungslosigkeit und Galgenhumor bewegt, einen gar nicht unberührt lassen kann.

Themenspektrum bei uns vernachlässigt

Die Verelendung weiter Bevölkerungskreise zumal durch Margaret Thatchers Politik hat in Großbritannien ein beachtliches, quasi-„proletarisches“ Filmgenre hervorgebracht, das leider in Deutschland seinesgleichen sucht. Als ob hierzulande sozial alles zum besten stünde, drehen unsere Regisseure zumeist belanglose Yuppie-Beziehungskomödien.

Wie echt und wahrhaftig wirkt dagegen alles, was ein Ken Loach zu sagen hat! Auch die zwischen Joe und der Sozialarbeiterin Sarah (starkes Schauspielerpaar: Peter Mullan, Louise Goodall) keimende Liebe ist kein billiger Trost, sondern fragile, letztlich aber wohl doch haltbare Stütze im allgemeinen Elend.

Der verzweifelte Liam erhängt sich, Joe gerät nach einem Zerwürfnis mit Sarah wieder ans Saufen. Aber an Liams Grab steht er wieder mit ihr beisammen. Ende offen, Hoffnung ungewiß.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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