Die Vermessung des Menschen – Oskar Schlemmers „Folkwang-Zyklus“ und Artverwandtes in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Also sprach der Künstler anno 1930 im Hörfunk: „Wenn erst einmal der Fernseher da sein wird, eröffnen sich auch uns Perspektiven, die gar nicht abzusehen sind… Dann können auch wir uns an die Masse des Volkes wenden.“

Der grandiose Optimist war Oskar Schlemmer (1888-1943). Anlaß seines denkwürdigen Funkauftritts war just jener Werkzyklus, der jetzt im Essener Museum Folkwang gezeigt wird.

Schlemmers „Folkwang-Zyklus“ war Ergebnis eines Ende 1927 gestarteten Wettbewerbs zur Ausgestaltung des Museums mit Wandbildern. Für den damaligen Folkwang-Direktor Ernst Gosebruch stand freilich der Sieger von Anfang an fest: Oskar Schlemmer. Dabei waren die Mitbewerber, Erich Heckel und Willi Baumeister, kaum weniger hochkarätig. In Essen kann man einige ihrer Entwürfe mit denen Schlemmers vergleichen.

„Die jungmännliche Bewegung“

Schlemmer war seinerzeit in Geldnöten. Und so stürzte er sich geradezu in die Essener Arbeit. Er gab sich ungeheure Mühe, um den Wandfries in der zentralen Museums-Rotunde zu gestalten, in deren Zentrum George Minnes Brunnen mit Knabenfiguren (1898) installiert war. Das vorgegebene Thema für die Wandbilder lautete, für heutige Ohren reichlich altfränkisch klingend: „Die jungmännliche Bewegung“. Man könnte das etwa mit Gymnastik oder Sport gleichsetzen.

Doch Schlemmer faßte das Thema viel weiter. Ihm ging es um das Verhältnis zwischen menschlicher Figur und Raum überhaupt. In Essen kann man nun anhand von 180 Arbeiten die Entstehungs-Phasen nachvollziehen. Erst nach vielen Vorstudien und drei Fassungen des Zyklus‘ rang sich Schlemmer zur gültigen Formulierung durch. Das Projekt glich anfangs einer grundlegenden Vermessung des menschlichen Körpers und seiner Bewegungen – in der Tradition eines Dürer oder Leonardo.

Typisierte Figurinen

Resultat sind keine Menschen mit individuellen Zügen, sondern typisierte, abgerundete Figurinen. Diese Jünglinge werden so paßgenau in geometrisch gefaßte Räume gespannt, daß sie mit ihrer Umgebung verschmelzen. Und der Bildraum steht dabei für den ganzen Kosmos.

Zum Vergleich werden in Essen Schlemmer-Gemälde aus der gleichen Zeit gezeigt. Bemerkenswert auch hier, wie präzise er seine Figuren gruppiert und – oft an Treppengeländern entlang – hintereinander staffelt, so daß man meint: Anders kann es gar nicht sein, es darf sich um keinen Millimeter verschieben. Gelegentlich stellt Schlemmer die Figuren in eine quasi surrealistische Schachbrettwelt hinein („Frauenschule“), die bereits an de Chirico gemahnt.

Werke in alle Winde zerstreut

Die historisch aufschlußreichste Abteilung folgt am Ende des Rundgangs. Schlemmer hatte schon 1933 seine Folkwang-Arbeiten wieder abgehängt. Der neue FolkwangChef Klaus Graf von Baudissin paßte sich dem braunen Zeitgeist an und schrieb 1934 eilfertig einen neuen Wettbewerb aus, an dem sich 240 Künstler beteiligten. Unter ihnen auch der Westfale Fritz Winter, der erstaunlich abstrakte Arbeiten einreichte und sogar in die Endausscheidung vordrang.

Es war damals eben noch nicht so recht ausgemacht, ob sich die NS-Machthaber der Avantgarde bedienen oder ob sie sie verfemen würden. Doch das Blatt wendete sich dann rasch, wie man weiß: Werke Schlemmers wurden beschlagnahmt, in alle Winde zerstreut und zum Teil im Bombenhagel des Krieges zerstört…

Oskar Schlemmer: Folkwang-Zyklus / Malerei um 1930. Museum Folkwang, Essen. 12. Dez. 1993 bis 13. Feb. 1994. Tägl. außer Mo. 10-18 Uhr, Do. 10-21 Uhr. Eintritt 5 DM. Zweibändiger Katalog 42 DM.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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