Von Bernd Berke
Düsseldorf. Alles ist da: Vögel ohne Zahl, dunkel-bedrohliche Wälder, riesenhafte Stadthügel, Frauenfiguren, die zu Tier- oder Pflanzengestalten mutieren. Es ist der ganze Kosmos des Max Ernst, der jetzt in Düsseldorf zu besichtigen ist. Man hat die ständige Sammlung ausgeräumt, um Platz zu schaffen.
Niemals vor dieser Tournee (London, Stuttgart, jetzt Düsseldorf, dann Paris) hat es eine derart umfangreiche Ernst-Retrospektive gegeben. Vergleichbares wird wohl auch nie wieder möglich sein, denn fast 70 Prozent der gezeigten Werke befinden sich in Privatbesitz. Wegen des 100. Geburtstags von Max Ernst (1891-1976) ließen sich die Leihgeber zur Großzügigkeit bewegen.
Der Gang durch die Ausstellung mit ihren weit über 200 Exponaten gleicht fast einer Reise durch das Werkverzeichnis. Jedenfalls sind die Gemälde — flankiert von wenigen Skulpturen und Collagen — in staunenswerterVollständigkeit zu sehen; man findet reihenweise Leinwand-Berühmtheiten wie den Elefanten „Celebes“, „Die ganze Stadt“, „Die Einkleidung der Braut“, „Die Versuchung des Hl. Antonius“. Dennoch machen nicht diese Gipfelpunkte den eigentlichen Reiz aus, noch wichtiger sind qualitätvolle Fülle und Vergleichsmöglichkeiten.
Da wird zum Beispiel klar, wie oft Max Ernst seine Figuren mit Durchbrüchen in Gestalt von „Fenstern“ versehen hat. Es sind dies Durchblicke in zweite, dritte und vierte Dimensionen. Das ist ja eben das Herrliche an diesen Bildern: daß sich am einzelnen Werk notfalls die gesamte psychologische Theorie abarbeiten könnte und doch nie an ein schlüssiges Ende käme. Diese Werke behaupten ganz souverän den Vorrang der Kunst vor deren bündiger Erklärung.
Manches grenzt an „Historienmalerei“
Dennoch sind viele Arbeiten in einem vertrackt-höheren Sinn auch realistisch, ja politisch. Man betrachte etwa das 1936 gemalte Bild „Die Lust am Leben“: undurchdringlicher Dschungel, darin eine schadenfroh lachende Monsterfigur. Intensiver läßt sich kaum darstellen, daß damals tatsächlich die „Bestie Mensch“ losgelassen wurde. Auch eine Arbeit wie „Die ganze Stadt“ scheint ja die damals gängige faschistische Architektur auf ihren lebensverachtenden Begriff zu bringen. Man könnte beinahe sagen, dies sei „Historienmalerei“, aber natürlich eine mit modernsten Mitteln.
Andere Bilder wiederum reizen — nicht nur durch ihre dadaistisch inspirierten Titel, sondern besonders durch ihre kombinatorischen Verfahren und ihre Durchlässigkeit für vielerlei Deutungen — ganz einfach zum Lachen; sie müssen in einer Art „fröhlichem Irrsinn“ oder irrsinniger Freude entstanden sein.
Schließlich hat Max Ernst auch, wie hier ersichtlich wird, immens viel mit der Gegenwartskunst zu tun. In manchen späteren Arbeiten ist er deutlich ein Vorläufer der Pop-art, andere wirken gar wie mit einem fortgeschrittenen Computerprogramm erzeugt. Und ein Bild wie „Die chemische Hochzeit“ (1948) kann gut und gerne auf düstere gentechnologische Aussichten bezogen werden. Da droht, wie überhaupt in so vielen Bildern Max Ernsts, eine Welt ohne Menschen.
Max Ernst. Werkschau. Kunstsammlung NRW. Düsseldorf, Grabbeplatz. 24. August bis 3. November. Täglich 10-18 Uhr, außer montags. Katalog 49 DM.