Von Bernd Berke
Einige Zeit vor der DDR-„Wende“ und der deutschen Vereinigung hatte Martin Walser seinen Schmerz über die Teilung bekundet. Was seinerzeit manchen befremdete und als Thema gar nicht auf der Tagesordnung zu stehen schien, erwies sich im nachhinein als wahrhaft rechtzeitig. Vielleicht hat Walser sich dann dazu gezwungen, nun auch den ganz großen Roman, ein Hauptwerk über das zerrissene Doppeldeutschland zu schreiben.
Alfred Dorn, die Hauptperson, ist in vielfacher Hinsicht ein „Kind der Teilung“ und der Verluste: 1929 in Dresden geboren, hat er – wie man in Rückblenden erfährt – als Jugendlicher das infernalische Bombardement der Stadt im Februar 1945 mit knapper Not überlebt. Erster riesiger Verlust: Die Heimat ist verwüstet, Bekannte und Nachbarn sind im Feuersturm umgekommen.
Die Handlung setzt in den atmosphärisch dicht eingefangenen, miefigen 50er Jahren ein, als Dresden mitsamt seinen Ruinen verwahrlost und Alfreds Eltern getrennt leben. Zweiter Verlust: Die Familie ist dahin. Wir sehen, wie sich Alfred als Jurastudent und dann als Beamter durchs Labyrinth der sich verfestigenden Teilung Deutschlands“ (dritter Verlust) schlängelt, wie er sich zwischen lauter Unmöglichkeiten und Uneindeutigkeiten bewegen muß.
Wir erleben, wie Alfred, den man in Leipzig wegen mangelnder Linientreue durch die Prüfung fallen ließ, 1953 ein Studium im Westen Berlins aufnimmt und – unter immer komplizierteren Bedingungen – Besuche in und aus Sachsen organisiert. Walser hat auffallend intensiv recherchiert: Wie man Z.B. in einem bestimmten Jahr einen Passierschein bekam, wie es im Jahr darauf ging, wie damals ein Studium der Rechte ablief usw. Auch lernen wir eine Unzahl sächsischer Redewendungen und regionaler Besonderheiten, die dem Bodensee-Anrainer Walser sicher nicht im Fluge beigekommen sind. Doch die vielen Einzelheiten hemmen gelegentlich den Erzählfluß.
Wir erfahren aber vor allem von den seelischen Beschädigungen, die all die besagten Verluste Alfred zufügen. Verkürzt gesagt: Er wird einfach nicht erwachsen, bleibt ein quasi geschlechtsloses „Muttersöhnchen“. Hollywood Kino und Musik sind seine irrealen Fluchtpunkte. Grotesk seine Prüderie, sein Ekel vor allem Körperlichen. Quälend die Symbiose, in der der ewige Junggeselle mit seiner Mutter lebt; die Beschreibung seiner beinahe kafkaesken Alltags-Untüchtigkeit, die ihn zum Gespött seiner Mitstudenten und später der Kollegen in den Behörden macht, wo er erst für „Wiedergutmachung“ und dann u. a. für Denkmalschutz, Angelegenheiten der Vergangenheit also, zuständig ist.
Kein Wunder, daß solch ein Mann – zumal nach dem Tod der Mutter – aus der Gegenwart flüchtet, lauter Ersatzmuttis sucht und eigentlich nur sein Projekt „Verteidigung der Kindheit“ verfolgt: keine Verluste mehr hinnehmen, alles sammeln und retten wollen, bevor es vergeht. Ziel auf dieser Suche nach der verlorenen Zeit: ein imaginäres „Alfred-Dorn-Museum“, in dem alles ist, wie es war – Schaustücke eines verschrobenen deutschen Lebens!
Die Vergangenheits-Marotte, die sich später zur lebensfeindlichen Sammel-Neurose steigert, ist hier tief und fatal in die deutsche Nachkriegsentwicklung verstrickt. Der Autor führt nicht zuletzt die Teilung der Nation auch als Schizophrenie eines Einzelnen vor. Allerdings lädt Walser seiner Hauptfigur damit auch enorm viel Historie auf die Schultern. Unter dieser Last „knickt“ sie zuweilen ein.
Seltsam orientierungslos wirkt der Anfang mit seinem Gewitter verwirrender Personennamen, mit distanzierenden Floskeln, die ohne rechte Folgewirkung bleiben. Erst nach etwa fünfzig Seiten kommen die Geschehnisse stolpernd in Gang. Es ist, als sperre sich die Thematik gegen schöne Geläufigkeit.
Es gibt aber auch über weite Strecken „besten Walser“ zu lesen, mit grandiosen Passagen unterkühlter Komik. Gegen Schluß erhöht sich das Erzähltempo zusehends. Die Jahre bis 1987 verfliegen immer rascher – flüchtige Gegenwart prägt den Schreibstil.
Martin Walser: „Die Verteidigung der Kindheit“. Roman. Suhrkamp. 520 S., 44 DM.