Von Bernd Berke
Wenn Ernst Jandl zu öffentlichen Lesungen erscheint, kommen Zuhörerscharen wie sonst nur bei Popgruppen oder Opernstars. Es wird „Kult“ mit ihm getrieben.
Dem scheint er sich mit seinem neuen Gedichtband „Stanzen“ (Bezeichnung einer Strophenform) zu entziehen. Der Umschlag ist sinnigerweise in der Mitte gelocht, also ausgestanzt. Die Texte muß man sich, einem Wörterverzeichnis zum Trotz, erst einmal erarbeiten. Jandl hat seine Vierzeiler in einer – dem Niederösterreichischen entlehnten – Kunst-Sprache verfaßt, die abermals eher vorgesprochen als still gelesen sein will. Kostprobe samt Übertragungs-Versuch:
de schritt im fuazima / woan ned fun dia / glei bina aussä / s woitat kaana zu mia
(die schritte im Vorzimmer / waren nicht die deinen / gleich bin ich hinaus / doch es wollte keiner zu mir).
Dies Beispiel ist im Original noch relativ gut zu verstehen, bei anderen tut man sich schwerer. Dennoch ahnt man schon hier. welch einen Sprachverlust jeder „Übersetzung“-Versuch zwangsläufig bedeutet. Diese Differenz kennzeichnet Jandls Gedichte zugleich als wahrhaftige Sprach-Kunstwerke. Ohne Form ist hier der Inhalt nichts.
Jandl bewegt sich auf grenznahem Pioniergelände der deutschen Sprache. Er nutzt dabei eine volkstümliche Form für zuweilen derbkomische, im Grunde aber gar nicht so „volkstümliche“ Mitteilungen. Es geht nämlich unterschwellig fast immer um Alter, Einsamkeit, körperliche Hinfälligkeit, Todesnähe. Verzweiflung ist der Grundton.
Selbst die auf den ersten Blick läppischen Sexual- und Anal-Scherze sind in diesem Zusammenhang bodenlos, auch das Obszöne kann hier jederzeit in Depression und Bitternis umschlagen. Der Kunst-Dialekt bewahrt gleichermaßen das dumpfe Brüten, ja die Brutalität der Mundart, aber auch ihren schlagenden Witz.
Das alles ist, um paradox mit einem Titel von Thomas Bernhard zu reden, „einfach kompliziert“, also scheinbar simpel und in Wahrheit schwierig. Dann und wann mischen sich auch hochdeutsche und englische Sprachbrocken hinein. Jandl mischt Elemente von Jazz und Rock, Rap-Gesang, Volksmusik und Bauerntheater. Er deutet dies im Anhang an, wenn er sein Verfahren erläutert – ein Umstand übrigens, der zeigt, wie sehr Jandl auf das Handwerkliche der Sprachgestaltung Wert legt. Er hat da nichts zu verbergen und braucht keine wolkige Geheimnistuerei.
Ernst Jandl: „Stanzen“. Luchterhand Literaturverlag. 150 Seiten, 48 DM (limitierte Auflage).