Kambodschas Geschichte als fünfstündiges Bühnendrama – Hansgünther Heyme inszeniert Hélène Cixous in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Verkehrte Verhältnisse im Essener Grillo-Theater: Die Sitzreihen befinden sich im Bühnenraum, die Szene ist dort, wo sonst die Zuschauer Platz nehmen.

Wenn das Publikum die umgebaute Theaterstätte betritt, platzt es mitten in den Prolog der Gemüseverkäuferin Khieu Samnol (Astrid Gorvin) {Astriâ ‚Gorvin), die – wie auf einem Jahrmarkt – die Leiden des kambodschanischen Volkes ausruft. Gedränge und Geschiebe der Zuschauer, die Plätze sind nicht numeriert; und wenn man sitzt, muß man sich recken, um etwas zu sehen. Man kommt sich vor wie inmitten einer Volksmenge. Doch mit diesem Gefühl und den Klagen der Khieu Samnol hat das Volk auch schon ausgespielt. In den folgenden fünf Stunden ist es nur noch Manövriermasse.

„Die schreckliche, aber unvollendete Geschichte von Norodom Sihanouk, König von Kambodscha“, das Stück von Hélène Cixous, 1985 im Pariser „Théâtre du Soleil“ der Ariane Mnouchkine uraufgeführt und am Samstag in Hansgünther Heymes Regie erstmals deutschsprachig gezeigt, ist (auch) ein Schnellkurs in kambodschanischer Historie. Was zur Premiere als Doppelabend (Epoche 1955-1970/1970-1979) herauskam, wird später auf zwei Abende verteilt.

Wer sich nicht gerade einen Südostasienexperten nennen kann, tut gut daran, die theatralische Tour durch 24 Jahre kambodschanischer Geschichte anhand der Nacherzählung im Programmheft zu verfolgen. Vom feudalen Gerichtstag Sihanouks (1955) bis zum Einmarsch vietnamesischer Truppen in Kambodscha (1979) verdichtet sich das Netz politischer Intrigen im Kräftefeld zwischen USA, UdSSR, China, Vietnam und den Roten Khmer. Die von Prinz Sihanouk angestrebte Neutralität Kambodschas gerät zur Farce. Das Land wird in den Vietnam-Krieg hineingezogen und später von Pol Pots Revolutionsgarden mit Terror überzogen.

Dabei scheint anfangs alles wie ein Spiel: Sihanouk (großartig: Volker K. Bauer) schlängelt sich körperlich wie stimmlich zwischen den Fronten hindurch, bedient sich der geschichtlichen Bedingungen, als lägen sie frei verfügbar in einer Spielzeugkiste. Doch das Ziel einer weltpolitisch neutralen, sozialistischen Monarchie erweist sich sehr bald als naiv. Sihanouk, zunehmend eine tragische Figur, muß Konzessionen nach allen Seiten machen und Geister anrufen, die er nicht mehr loswird.

Das große Welttheater, in dem Kissinger, Kossygin und Tschu Enlai die Fäden ziehen, endet im Geisterreich. Tote (u. a. Sihanouks Eltern, gespielt von Wolfgang Robert und Margit Carstensen) huschen gespenstisch durch den zweiten Teil.

Cixous Geschichtsdrama (passend: Alfons Nowackis Musik, die oft an Brechtsche Songs erinnert), ist streckenweise zu geschwätzig, um die Größe des mehrfach beschworenen Shakespeare zu erreichen, liefert aber viele Szenen für pralles Theater, das in Essen auch Rauch und Theaterdonner nicht verschmäht. Die Ensemble-Leistung kann sich sehen lassen. Sehr zu loben: Wolf Münzners Bühnenbild und Kostüme, die jeden falschen Exotismus meiden.

Immenser Beifall, der sich für Hauptdarsteller Volker K. Bauer zum Bravo-Orkan steigerte und auch die Regle einschloß.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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