Rock-Revue „Linie 1″ Favorit beim Publikum – Halbzeit des Mülheimer Wettbewerbs „stücke ’87“

Von Bernd Berke

Mülheim. Man könnte es wagen, schon zur „Halbzeit“ den Hauptanwärter auf den Mülheimer Dramatikerpreis ’87 vorherzusagen, wenn es nur nach dem Willen des Publikums ginge: er hieße mit ziemlicher Sicherheit Volker Ludwig.

Seine Rock-Revue von der U-Bahn „Linie l“, eine Stationen-Geschichten aus dem Berliner Untergrund zwischen Bahnhof-Zoo und Kreuzberg, mobilisierte am Wochenende zahlreiche Fans des Grips-Theaters, und deren frenetischer Beifall ließ kaum einen Zweifel daran, daß die Stimmzettel in den Wahlurnen der Stadthalle vielfach auf „gut“ oder „sehr gut“ lauteten.

Doch das gesamte Publikum hat auch bei ..Stücke ’87“ wieder nur eine einzige Stimme, die Theaterexperten der Jury werfen hingegen acht Voten in die Waagschale. Es ist kaum anzunehmen, daß dieses Gremium sich dazu durchringen wird, ein Rock-Musical zum Stück des Jahres zu erklären, das die Szene zwischen Punks, Pennern und Wilmersdorfer Witwen mit Elementen der Typenkomödie sowie einem Schuß Broadway verquickt und überhaupt keinerlei Berührungsscheu erkennen läßt – weder vor Gefühlen, die man landläufig unter Kitschverdacht stellen könnte, noch vor Kabarett- und Slapstick-Einlagen, ja, noch nicht einmal vor einem Happy-End. Das grenzt an Provokation inmitten der vorherrschenden Endzeitstimmung des Theaters.

Ob nun „Linie 1″ als fröhlicher Ausverkauf von gesellschaftlichen Randgruppen oder als populäre Aufbereitung verdrängter Utopien begriffen wird – pralles Theater ist es allemal. Und das liegt nicht nur an der Inszenierung, sondern vor allem am Text, der ja in Mülheim zur Debatte steht.

Zuvor waren zwei Stücke gezeigt worden, die jeweils auf ihre Weise schmerzlich deutlich machten, daß Kultur leider manchmal viel mit Sitzfleisch und mit „aussitzen° zu tun haben kann. Weder Elfriede Jelineks „Krankheit“ (vorgeführt vom Schauspiel Bonn), noch der „Jochen Schanotta“ des DDR-Äutors Georg Seidel (dargeboten vom Baseler Theater) dürften für den Preis in Frage kommen.

Lesbische Vampire kontra faschistoide Machos

Jelineks Stück ist streckenweise immerhin ein beachtliches Sprach-Kunstwerk. Doch Feinheiten gehen in Peter Eschbergs schrill-spekulativer Bühneneinrichtung sowieso den Bach herunter. Außerdem reißt das Stück Bäume aus, wo gar keine sind: lesbische Vampire kontra faschistoid daherbrabbelende Machos, die am Ende alles Weibliche mit der Schußwaffe erlegen – da fühlt man sich auch als Zuschauer leicht wie von Blutsaugern befallen.

Im übrigen haben sich die mit der Brechstange erzeugten Gegensätze des Stücks schnell erschöpft. Daß Frauen mystisch raunen, Männer hingegen nur bramarbasieren, hat man nach wenigen Szenen begriffen. Was sich danach endlos hinzieht, ist nur Wiederholung, ein Kreisen in sich selbst.

Noch strenger nimmt Georg Seidel die Zuschauer mit „Jochen Schanotta“ in die Zucht. Schanotta ist ein 18jähriger DDR-Rebell, der im Labyrinth der kleinen Freiheiten (lange Haare und Disco sind erlaubt) den.verzweifelten und von Anfang an vergeblichen Versuch unternimmt, die wirklichen Glücks- und Freiheitsmöglichkeiten des Individuums auszuloten.

Das diffuse Aufbegehren des jugendlichen Querdenkers wider die starre Erwachsenenwelt des realen Sozialismus mag auf DDR-Bühnen Sprengkraft entwickeln, hier mutet der Rebell ohne Rebellion seltsam gestrig an. Grundierung des Stücks ist das Vakuum der Langeweile, in dem jedes Anrennen zugleich ein Scheitern ist. So sieht man nur eine einzige Dimension, nämlich die schiere Vergeblichkeit auf der Bühne.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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