Die Bühne als Forum für sperrige Prosatexte – „Totenfloß“ und „Die Seidels“ bei „stücke ’87“

Von Bernd Berke

Mülheim. Die Jury der Mülheimer Theatertage „stücke ’87“ ist wahrlich nicht zu beneiden. Nach fünf von sechs Wettbewerbs-Beiträgen hat sich noch immer kein Text als „Stück des Jahres“ aufgedrängt.

Gewisse Aussichten auf den Dramatikerpreis hat Harald Mueller – allerdings eher wegen der hervorragenden Inszenierung seines Stücks „Totenfloß“ durch George Tabori, die einer wunderbaren Rettung des Textes gleichkommt. Das Mülheimer Publikum war in zwei Lager gespalten: Herzhafte „Buhs“ wurden mit lauten „Bravos“ vergolten.

Das Stück spielt im Jahr 2050, in einem chemisch und atomar verseuchten Endzeit-Deutschland. Mueller montierte eine auf brutale Kernbestände reduzierte „Zukunftssprache“: eine Mischung aus knappstem Techno-Idiom, Amerikanismen und Slang – etwas Orwell, etwas Anthony Burgess („Uhrwerk Orange“), etwas Arno Schmidt („Gelehrtenrepublik“).

Das entseelte „Neusprech“ und sein Kontrast zu lyrischen Sprachresten aus unverseuchter Zeit sind aber schon die deutlichsten Vorzüge – abgesehen davon, daß Mueller als wohl einziger Stückeschreiber das Thema so direkt aufgegriffen hat. Viele Bühnen spielten das Stück denn auch, vor allem „nach Tschernobyl“. Sie taten dies, so muß vermutet werden, mangels Alternativen (ein Armutszeugnis für die deutschsprachige Gegenwartsdramatik). Jedes Beckett’sche Endzeit-Szenario ist, obwohl dort nicht von Cadmium und Fallout die Rede ist, bedrückender als „Totenfloß“.

Inhaltlich ergibt sich nämlich bei Harald Mueller größtenteils eine simpel ausgemalte „Hochrechnung“ heutiger Katastrophen, wie sie nahezu täglich von den Medien vermeldet werden, also eine auf die Spitze getriebene Fortschreibung, die aus durchschnittlicher Science-fiction geläufig ist. Die gespenstische Flußfahrt der vier verstrahlten und vergifteten „Untoten“, die aufeinem Floß das angeblich „cleane“ (saubere) Xanten ansteuern wollen, mündet schließlich gar in einen unbedarften moralischen Appell.

Regisseur Tabori hat sich gar nich eerst auf die manchmal platten Beschreibungsversuche des Textes, der zu vieles ausspricht und zu viel Unvorstellbares vorstellen will, eingelassen, sondern das Stück in einen reinen Kunst- und Spielraum verlegt. Dabei zeigt sich dann doch, daß der Text, ohne daß man ihm Gewalt antun müßte, Ansätze zu theatergemäßer Umsetzung bietet, was längst nicht von allen Beiträgen bei „stücke ’87“ behauptet werden kann.

Hatte man zunächst gemeint, Georg Seidels „Jochen Schanotta“ sei das Anti-Stück des Wettbewerbs, so hatte man eben nur noch nicht Stefan Schütz‘ „Die Seidels (Groß & Gross)“ in der lnszenierung der Städtischen Bühnen Osnabrück durchlitten.Auch Schütz (aus der DDR kommend, in Hannover lebend) operiert mit einer künstlichen Sprache aus klassizistischen und expressionistischen Anklängen sowie Kraftworten. Geradezu berserkerhaft düster, wirft er den Zuschauern (viele gingen in Mülheim vorzeitig) einen allgemeinen Weltekel hin, den er nur notdürftig aus dem gesellschaftlichen Elend nach dem Scheitem der deutschen Revolution von 1918/19 herleitet. Der tiefschürfend-sperrige Text, oft „um drei Ecken herum“ formuliert, könnte als Prosa bestehen. Sein Erscheinen auf dem Theater ist alles andere als zwingend, es ist Zufall.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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