
Theresa Möllers waldähnliche „Verwicklungen“: „Entanglements“ (2023), Acryl auf Leinwand, 140 × 170 cm (© Courtesy: She BAM! Galerie Laetitia Gorsy, Leipzig + VG Bild-Kunst, Bonn 2024)
Seit etlichen Jahren kursieren medial und zumal im Internet zahllose Fake News oder andere Lügen. Mit einer entfesselten KI-Revolution dürfte sich all das noch ungemein beschleunigen. Hohe Zeit also auch für die Kunst, die Realität und deren Gegenkräfte zu überprüfen. Obwohl: Bewegen sich die Künste nicht seit jeher irgendwo zwischen Wirklichkeit und Vorstellung? Ist nicht gerade das ihre eigentliche Domäne?
Nach fast jeder mittelprächtigen TV-Talkshow gibt es mittlerweile einen „Faktencheck“. Nun will das Kunstmuseum Ahlen die so genannte Wirklichkeit und deren divergierende Wahrnehmung ausloten. „Reality Check“ heißt die neue, von Museumsleiterin Martina Padberg kuratierte Ausstellung, die 16 aktuelle künstlerische Positionen mit rund 75 Arbeiten verschiedener Sparten (Malerei, Skulptur, Fotografie, Installation, Digitalität) versammelt. Der Untertitel lautet: „Wenn Dinge nicht sind, wie sie scheinen“.
Katalog in vierfacher Ausfertigung
Die Irritation beginnt schon mit dem Cover des Katalogs (20 Euro), das gleich in vierfacher Ausfertigung vorliegt und einem die Wahlmöglichkeit lässt: „Welche Version hast d u denn?“ Nun, das ist noch harmlos. Im Verlauf des Rundgangs kann man jedoch so manches Mal über Ausgeburten zwischen Realität und Irrealität oder über die spezielle Ästhetik allfälliger Katastrophen erschrecken. Die meisten Exponate, durchweg von achtbarem bis beachtlichem Niveau, lassen einen nicht unberührt.
Nun können wir hier nicht alle Künstlerinnen (11 an der Zahl, dazu 5 männliche Mitstreiter – in früheren Zeiten war’s meist umgekehrt) einzeln würdigen, sondern nur ein paar Schlaglichter werfen. Generell scheint es, als werde die Wirklichkeit gerade dann auf hintersinnige Weise fraglich, wenn sie in der Kunst überdeutlich, sozusagen fotorealistisch dargestellt wird. Frappierend beispielsweise die malerische (!) Arbeit von Jochen Mühlenbrink, der eine beschlagene Spiegelscheibe mit vermeintlich flüchtig hingeworfenem Strichmännchen-Gesicht als raffinierte Augentäuschung (Trompe l’loeil) vor uns hinstellt. Was mit einem echten Spiegel und flinker Fingerübung vielleicht zwei Sekunden dauern würde, erfordert größte Sorgfalt bei der malerischen Umsetzung.

Blick in einen Raum der Ahlener Ausstellung: vorne eine Skulptur von Ulrike Buhl („Implosion“), im Hintergrund Gemälde von Stephanie Pech. (Foto: Bernd Berke)
Sich vor lauter Linien den Wald vorstellen
In Theresa Möllers waldartigen Farblandschaften glauben wir nur deshalb lauter Bäume zu erkennen, weil uns echte Wälder so vertraut sind. In Wahrheit zeigt sich hier eine ganz andere Realität, jenseits unserer Erfahrungen. Die Konstruktion von Wirklichkeit hat überhaupt sehr viel mit nicht gerade objektiver Wahrnehmung zu tun. Letztlich nur folgerichtig, dass der Ausstellungskatalog auch einen Beitrag von Prof. Andreas Heinz enthält, seines Zeichens Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité, der Wahrnehmungs-Verzerrungen in psychotischen Zuständen erläutert. Künstlerische Imaginationen und Halluzinationen sind beileibe nicht dasselbe, haben aber wohl subkutan damit zu tun und können bis zum mehr oder weniger kontrollierten Wahn eskalieren. Unterdessen führt uns diese Ausstellung sicherlich nicht zu finalen Wahrheiten, sie stellt aber mancherlei Gewissheiten in Frage. Was schon eine Menge ist.
Schmelzender Gletscher, „sprechende“ Pflanzen
Bemerkenswert Felix Contzens zunächst eher meditativ erscheinende, doch eigentlich beunruhigende Arbeit „Bradinnis“, in der sich das Abbild eines isländischen Gletschers mit dem gespenstisch überlagernden Prozess des Abschmelzens verbindet. Durch die Projektion wird eine unterschwellige, aber sehr wirkmächtige Realität sichtbar, die sonst womöglich übersehen werden könnte. Es ist in dieser Schau übrigens nicht das einzige Werk mit ökologischem Ansatz.

Katja Davar: „Still dreaming, she knew it was time to set sail“ (2023), Schwarzer Buntstift, schwarzes und silbernes Grafitpulver und Firnis auf 250-Gramm-Papier collé, 145 × 230 cm (Foto: Mareike Tocha, Köln, © Courtesy: Bernhard Knaus Fine Art, Frankfurt am Main und VG Bild-Kunst, Bonn 2024)
Sodann mag man sich in den subtil rätselvollen Zeichnungen von Katja Davar verlieren, die Formationen aus diversen Zusammenhängen und Jahrhunderten (darunter gar ein Fliesenornament aus dem Ahlener Museum) zu silbriggraublau unterlegten Traumszenen fügt – auf tatsächlich geradezu traumwandlerische Weise. Auch führt sie aus dem Reich des (für uns) Unsichtbaren vor, wie Pflanzen insgeheim miteinander kommunizieren. Das wollten wir doch immer schon mal gewusst haben. Und sei’s halt in der Imagination.
Bilder im chemischen Wandel
Silke Albrecht collagiert Schicht für Schicht Farbereignisse, die u. a. gesprayte, fotografierte und genähte Elemente enthalten. Auch experimentiert sie mit chemischen Reaktionen, die bestimmte Lacke auf Kupferplatten einleiten können. Wahrscheinlich werden solche Bilder eines Tages anders aussehen als jetzt, sie sind prinzipiell unfertig, so dass ihre Wirklichkeit eben dem Wandel und buchstäblich dem Wirken unterworfen ist. Während der begrenzten Ausstellungsdauer sind freilich noch keine grundlegenden Mutationen zu erwarten.
Das Thema wird immer wieder neu und anders umkreist: Caroline Hake hat sich von den glatten Oberflächen der Fernseh-Kulissenarchitekturen (Sendungen wie „Glücksrad“ und „Wahre Wunder“) zu großformatigen Bildern inspirieren lassen. Die Illusions-Welten werden bis zur Abstraktion ausgereizt und auf den bildlichen Begriff gebracht.

Achim Mohné: „Der Wolf vom Königsforst und das Mädchen“ (2020/24), multimediale Installation, 3-D-Rendering, 4K-Video, VR, AR, 3-D-Druck, Vintage-Figurinen und UV-Druck auf Tapete, Rauminstallation im Kunstmuseum Ahlen (© VG Bild-Kunst, Bonn 2024)
Virtuelle Welt mit Wölfen und Populisten
Beherzter Sprung ins oberste Stockwerk, wo Achim Mohné eine vielfältige, ständig anwachsende virtuelle Welt erschaffen hat, die mit eigenem Handy oder geliehener VR-Brille „belebt“ werden kann. Hier herrscht zwischen Wirklichkeit und Trug vollends Verwirrung, zumal der Künstler auch KI-generierte Szenen einbaut. Es geht zudem um politische Fakes, sieht man doch zwischendurch Björn Höcke und Donald Trump ihre wüsten Reden schwingen, wobei Höcke mit der abgehackten Kunstsprache von Chaplins „Der große Diktator“ unterlegt wird. Überdies geht es um das Auftauchen von Wölfen und ferner um eine Urfassung des „Rotkäppchen“-Stoffs, die gar nicht gut ausgeht. Dass das ganze Amalgam die Betrachtenden gründlich überfordert, gehört innig zum Konzept. Geht es uns denn heute nicht just so: dass wir oft kaum noch zu unterscheiden vermögen, ob etwas Substanz hat, ob es „stimmt“ oder nicht?
P. S.: Quasi als Katalog-Schlusswort wird Bundesliga-Schiedsrichter Sascha Stegemann zitiert, der geradezu philosophisch sinniert: „Die Menschen neigen dazu zu glauben, dass das, was sie sehen, Realität ist. Aber wie wirklich ist unsere Wirklichkeit wirklich?“ Bei der nächsten irrwitzigen VAR-Entscheidung * werden wir dran denken.
„Reality Check. Wenn Dinge nicht sind, wie sie scheinen“. Kunstmuseum Ahlen, Museumsplatz 1, 59227 Ahlen. Vom 13. Oktober 2024 bis zum 26. Januar 2025. Geöffnet Mi-Sa 15-18 Uhr, So und feiertags 11-18 Uhr.
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* Für Fußball-Laien: VAR = Video Assistant Referee, immer wieder umstrittenes Kontrollorgan für Schiedsrichter-Entscheidungen