Am liebsten „Gelsenkirchener Barock“: Arbeiterwohnen – Ideal und Wirklichkeit

Von Bernd Berke

Dortmund. Als in den 20er Jahren der soziale Wohnungsbau aufkam, mußten Möbel leiden. Arbeiter, die bis dahin üppige Schränke und Vertikos bevorzugt hatten, konnten die Schmuckstücke in den neuen Zimmem nicht mehr unterbringen. Also hieß es: Schränke rigoros auf Etagenhöhe kappen.

Daß die Möblierung vordem so wuchtig ausgefallen war, lag vor allem daran, daß weite Teile der Arbeiterschaft eine private Gegenwelt zur sinnentleerten „Maloche“ schaffen wollten. Dabei orientierten sie sich am Bürgertum. Sozialreformer, die ihnen einen sachlich-nüchternen Wohnstil als Ideal verordnen wollten, hatten praktisch keine Chance. Solche Erkenntnisse vermittelt – mit einigen beispielhaften Zimmer-Aufbauten und Fotodokumenten – die Ausstellung „Arbeiterwohnen: Ideal und Wirklichkeit 1850—1950″ im Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte.

Im ersten Stockwerk sieht man, wie Arbeiter tatsächlich gewohnt haben; da zeigt sich, daß es die typische Proletarier-Einrichtung eigentlich nie gegeben hat. Im zweiten Stock finden sich die zumeist kargen und unterkühlten Entwürfe jener Architekten, die vom Proletariat nie auf breiter Front akzeptiert wurden; kein Wunder, hatte man sie doch nie nach ihren Wünschen gefragt. Im Zweifelsfall waren sie für „Gelsenkirchener Barock“ statt für Bauhaus oder Art Déco. Allenfalls überzeugte Sozialisten ließen sich mal zu mehr Wohnfortschritt hinreißen.

Initialzündung für die Reformer waren Gewerbe-Ausstellungen in Dresden um 1900. Fortan wollten man den inzwischen etwas besser verdienenden Arbeitern vormachen, wie sie wohnen sollten. In gemilderter Form übernahmen Großfirmen auch im Revier neue Konzepte, etwa Krupp in Essen. Übrigens: Ausgeprägter als anderswo, war im Ruhrgebiet die große Wohnküche bevorzugter Aufenthaltsort der Arbeiterfamilie, während die „Gute Stube“ nach bourgeoisem Vorbild meist mit Schonbezügen bedeckt blieb und nur an Festtagen genutzt wurde.

So sehr imitierten Arbeiter historisch bürgerliches Wohnen, daß stilistische Unterschiede zwischen diesen Klassen kaum ins Gewicht fielen. Nur: Die Möbel des Bürgers waren denn doch im Detail kostbarer, gediegener.

Barbara Scheffran, die die Ausstellung wissenschaftlich betreut hat, wurde in einigen Kellern und auf Dachböden des Reviers fündig. Dort konnte sie fürs Museum Einrichtungs-Ensembles ankaufen, die auf dem Markt kaum noch zu haben sind.

„Arbeiterwohnen – Ideal und Wirklichkeit“. Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund, Hansastraße 3. – 18. August bis 21. Oktober. Di.-So., 10-bis 18 Uhr, Mo. geschlossen. Eintritt frei, Katalog 25 DM.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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