Wilhelm Genazino: Der grobe und der feine Witz

Vorbemerkung:

Folgendes kurzes Interview ist bereits im Herbst 2004 in der Westfälischen Rundschau erschienen. Auf mehrfachen Wunsch kommt hier eine Wiederholung (gibt’s im TV doch auch allweil).

Auf Band hatte ich seinerzeit viel mehr Fragen und Antworten aufgezeichnet. Im Blatt musste es bedeutend kürzer erscheinen. Leider habe ich keine Langfassung aufgeschrieben. Da ich den Schrieb direkt aus meinem Word-Verzeichnis hole, kriege ich die übliche Westropolis-Schrift nicht hin. Mit dem Firefox-Browser (ermöglicht Nutzung des Word-Editors) kann ich mich partout nicht im Blog anmelden. Teufel auch!

Bis vor kurzem galt er noch immer als literarischer „Geheimtip“: Doch seit Wilhelm Genazino der Büchner-Preis zugesprochen wurde, kann davon keine Rede mehr sein.

Die WR traf Genazino bei der Frankfurter Buchmesse am Stand des Carl Hanser Verlages, wo zuletzt sein autobiographisch getönter Erzählband „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“ und die Essay-Sammlung „Der gedehnte Blick“ erschienen sind.

Sie erhalten in Kürze den wichtigsten deutschen Literaturpreis. Wie haben Sie die Nachricht aufgenommen?

Wilhelm Genazino: Ungläubig. Aber ich freue mich natürlich, klar. Bis vor wenigen Jahren stand ich eher am Rande. Ich hab’ mich da gar nicht unwohl gefühlt.

Geduldige Beobachtungen von Randfiguren ziehen sich auch durch Ihr Werk.

Stimmt. Ich passe zu meinen Figuren. Deswegen mag ich auch die Vorstädte. Da geht es weniger künstlich zu, glaubwürdiger, nicht so aufgedonnert wie in der Fassadenwelt der Innenstädte.

In Ihrem Essay-Band entwickeln Sie auch eine Humor-Theorie. Sie unterscheiden zwischen innen- und außengeleitetem Humor. Was verstehen Sie darunter?

Es gibt sehr verschiedene Arten des Vergnügens. Diese furchtbare Fernsehreihe „Pleiten, Pech und Pannen“, das ist sozusagen der Massenhumor. Da passiert immer wieder dasselbe: Ein Mann fliegt vom Fahrrad, eine Torte fällt einer Frau auf die Bluse, ein Kind rutscht im Gummiboot aus… Es ist dieser öffentliche Schadenfreude-Humor mit ganz groben Effekten. Die komische Empfindung hingegen braucht gar keine Witze als Anlass. Hier geht es um stille Wahrnehmungen, darum, dass man etwas für sich als komisch entdeckt. Eben war ich in einem Messe-Bistro, da stehen drei Tische – und auf jedem ein handgeschriebenes Schildchen: „Die Tische gehen nur über die Bedienung!“ Man weiß ja, was gemeint ist. Aber das so auszudrücken, das ist einfach großartig. Damit könnte man im Fernsehen nicht landen. Der Witz ist viel zu leise, so etwas kommt eher in der Literatur zum Vorschein – bei Lawrence Sterne, bei Italo Svevo oder bei Jean Paul.

Ihr Buch enthält auch eine Betrachtung über gescheiterte Autoren.

Es gibt viele großartige gescheiterte Bücher. Es ist oft ein Kennzeichen großer Romane, dass die Autoren zwischendurch ihr Thema verlieren. Auf einmal weiß man nicht mehr: Wovon ist hier eigentlich die Rede, was ist hier los? Das gibt es selbst bei Thomas Mann. Häufig sind es die besten Stellen, an denen ein Autor deliriert; diese Latenz-Phasen, bevor er wieder in seinen Roman zurückfindet.

Was hat es mit dem „gedehnten Blick“ auf sich, den Sie auf ein altes Kinderfoto anwenden, in dem sie nach und nach immer wieder andere Dinge entdecken?

Wenn man etwas sehr lange anschaut, dann merkt man, dass das Auge das verwandelt, was es sieht. Es bleibt nicht bei dem, was es einmal erkannt hat. Solches Hinschauen haben wir verlernt. Das Fernsehen ist ja sozusagen eine Sehens-Abgewöhnungs-Maschine, allein durch die Häufigkeit der schnellen Schnitte. Man wird gezwungen, ein Geschehen zu verfolgen. Aber das hat mit Sehen nichts mehr zu tun. Eine fatale Entwicklung.

„Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“ spielt zu Beginn der 60er Jahre. Was war das für eine Zeit?

Die Zeit, in der ich jung war. Eine bescheidene Zeit, eine armselige und verschämte Zeit. Das Entsetzen der Nachkriegsjahre stand noch den Menschen ins Gesicht geschrieben. Damals gab’s noch nicht diese künstliche Entsetzens-Kultur. Allerdings ist damals in Deutschland gnadenloser Kitsch produziert worden, der im Grunde dem NS-Kitsch geähnelt hat. Und das hört bis heute nicht auf: Auch diese unselige Volksmusik ist ein Spätling der NS-Zeit…

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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