Menschen lieben Geschichten, und wo ihnen keine angeboten wird, basteln sie sich aus dem, was sie wissen, selbst eine zurecht. Insofern ist jedes Stück postdramatisches Theater, das rein mit Stimmungen, Motiven und Versatzstücken arbeitet, eine Herausforderung für den Wahrnehmungsapparat.
Der Zuschauer muss akzeptieren, dass er höchstens das Thema zu fassen bekommt – und die ewige Suche nach dem Sinn aufgeben. Die britische Künstlergruppe Forced Entertainment unter der Leitung des Regisseurs Tim Etchells hat dieses Prinzip perfektioniert. In der weiten, offenen Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck zeigte sie für die Ruhrtriennale „The Last Adventures“, letzte Abenteuer.
Die Produktion ist eher Performance denn Schauspiel. Sie hat eine Choreografie, aber – für „Forced Entertainment“ durchaus untypisch – fast keinen Text. Sie hat keine Rollen, dafür aber Kostüme und Ton. Ebenso wichtig wie das Spiel der Darsteller, wenn nicht sogar tonangebend, ist die Sound-Collage, die der libanesische Klangkünstler Tarek Atoui mit einem selbst entwickelten Instrument live auf der Bühne erzeugt.
Zu Beginn erklären die 16 Darsteller einander die Naturgesetze und versichern sich im Chor der Welt: „Sterne können nicht vom Himmel genommen werden“, rufen sie aus einem Mund, „Zeit kann man nicht sparen. Ein Gewehr kann nicht denken. Was wir tun, ergibt keinen Sinn.“
Zuletzt sind die Worte kaum mehr zu hören – das Soundgewitter setzt ein, ab jetzt übernehmen Bild und Klang die Regie. Ein Darsteller nach dem anderen verlässt den Chor, nimmt einen Baum aus unbemaltem Sperrholz und schiebt ihn von rechts nach links über die Bühne. Wer nun an das Motiv des wandernden Waldes bei Macbeth denkt, liegt vielleicht richtig – vielleicht auch nicht. Es ist das erklärte Prinzip von „Forced Entertainment“, Zuschauererwartungen zu unterlaufen. Immer wenn man glaubt, einen erzählerischen Faden gefunden zu haben, wird er durchtrennt.
Aus dem Wald wird ein Schlachtfeld. Mit Kochtopf-Helmen und Besen-Säbeln inszeniert die Gruppe das Gemetzel eines vielleicht napoleonischen Krieges: Man sieht Leiber zucken, Soldaten robben, töten und marschieren, Verletzte werden abtransportiert, weiße Fahnen geschwungen. Eine lineare Handlung ergibt sich jedoch nicht, der Fokus liegt auf den Trash-Effekten, die die Darsteller verstörenderweise mit großer Ernsthaftigkeit produzieren: Rote Bänder simulieren spritzendes Blut und herausquellende Gedärme, die Toten tragen Skelett-Kostüme.
Später betritt ein von drei Darstellern geführter Lindwurm die Szenerie, es folgen Roboter in Alufolien-Kartons, Feen in Gardinenstoffen und Könige mit Papp-Krone. Ein Mann mit Axt verfolgt einen Baum, dann verfolgt der Baum die Axt. Wir sind tief in der Fantasy-Welt, die Naturgesetze gelten nicht länger, und die Maschinenhalle wird zur Bühne für ein Genre-Mashup aus Theater- und Film-Effekten.
Documenta-Teilnehmer Tarek Atoui steht derweil hinter seinem Sound-Pult und bietet fast eine One-Man-Show: Seine Hände fahren durch die Luft, beschreiben Kreise und Gesten und produzieren dadurch auf seinem Instrument elektronisch verzerrte, fragmentarische, collagierte Klanggebilde.
Der Abend ist eine Total-Überforderung – für die Augen, die Ohren, die Sinne. Die durchaus vorhandenen komischen Momente retten den Zuschauer nicht über den Abend. Denn letztlich gibt es kein Motiv, das hängenbleibt – weder textlich noch bildlich oder akustisch. Die Sinnsuche aufzugeben, das fällt einfach schwer. Der Applaus blieb verhalten, vereinzelt waren Buh-Rufe zu hören.