„Die Stadt der Blinden“: Wie das Böse anschwillt

Diese heillose Bestürzung ist eigentlich unvorstellbar: dass man urplötzlich erblindet und einem die sichtbare Welt gefährlich fremd wird. In „Die Stadt der Blinden” erfasst die rätselhafte Epidemie nach und nach fast die gesamte Bevölkerung.

Fernando Meirelles (bekannt durch seine knallharte brasilianische Favela-Sozialstudie „City of God”) hat das Wagnis auf sich genommen, den 1995 erschienenen Roman des Literaturnobelpreisträgers José Saramago in Bilder zu fassen.

Wie aber kann man im Kino eine Geschichte vermitteln, die unter Blinden spielt? Der Regisseur hat sich nicht für partielle Finsternis, sondern für ein grellweißes Gleißen entschieden, das viele Passagen des Films durchzieht und ins Surreale hebt. Die Wirklichkeit bleicht aus.

Anfangs ist es ein einziger Mann, der sein Augenlicht verliert. Dass ihm gleich darauf das Auto gestohlen wird, ist die Ursünde, die auf kommende Übel vorausdeutet. Als nächsten trifft es einen Augenarzt (Mark Ruffalo), dann mehr und mehr Menschen – bis das ganze öffentliche Leben verwahrlost und brachliegt. Im dreckigen Chaos werden noch die letzten Läden gewaltsam geplündert. Schreckliche Endzeit-Vision.

Das Böse schwillt ungeheuerlich an. Aus Angst vor Ansteckung werden die Blinden massenhaft in Lager eingesperrt und nur notdürftig versorgt. Bald ruft sich in „Block eins” ein blinder Mann zum „König” aus. Er und seine Schergen haben die restlichen Lebensmittel-Rationen an sich gebracht und verlangen für die spärliche Herausgabe erst Schmuck, dann willige Frauen aus den anderen Blöcken. Ein Mädchen, das bei dieser widerlichen Zwangsorgie nur stillhält und keine „Lust” erkennen lässt, wird bestialisch erschlagen.

Es gibt viele beklemmende Szenen, vor denen man am liebsten – die Augen verschließen würde. Doch zwischendurch lugt die Konstruktion durch, die auch den Roman prägt und die den Darstellern das ehrbare Handwerk erschwert. Hier werden anhand einer apokalyptischen Extremsituation globale Moralfragen durchgespielt. Es ist wie eine große, finale Prüfung – vielleicht von einem zornigen Gott verhängt.

Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch: Dem finsteren „König” treten der Augenarzt und seine couragierte, aus unerfindlichen Gründen als einziger Mensch noch sehtüchtige Frau (Julianne Moore) entgegen. Sie und ein paar Gefolgsleute sind das Häuflein der Aufrechten.

Diese Blinden begreifen ihr Schicksal als Chance zur ungeahnten Gruppenerfahrung: Als im Radio ein Lied erklingt, lauschen sie ergriffen. Im strömenden Regen tanzen sie wie zu Anbeginn des Menschengeschlechts. Aus solcher Gemeinschaft wachsen schließlich Glaube, Liebe, Hoffnung wie zarte Blüten.

In derlei erhabenen Momenten wird der Film so bild- und gefühlsmächtig, dass er denn doch jede angestrengte Konstruktion vergessen lässt.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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