Charlotte im Puppenheim: „Werther“ von Jules Massenet im Aalto-Theater Essen

Spaziergang auf Kunstrasen: Werther (Abdellah Lasri) und Charlotte (Michaela Selinger) wandeln im Mondschein (Foto: Matthias Jung)

Spaziergang auf Kunstrasen: Werther (Abdellah Lasri) und Charlotte (Michaela Selinger) wandeln im Mondschein (Foto: Matthias Jung)

Ein Baumstamm durchschlägt das Dach des Hauses. Herbstlaub fliegt durchs Fenster herein, Schneeflocken wirbeln durch die Türen. Manchmal schneit auch Werther vorbei, ein Schwärmer und Träumer, der eng mit der Natur im Bunde steht. Seine manische Leidenschaft für die verheiratete Charlotte verwandelt deren trautes Heim nach und nach in ein Trümmerfeld.

Nach diesem simplen Prinzip funktioniert die neue Inszenierung der Oper „Werther“ von Jules Massenet, mit der Carlos Wagner jetzt seinen Einstand im Essener Aalto-Theater gab. Der im venezolanischen Caracas geborene Regisseur setzt seine Gedanken zu dem 1892 uraufgeführten lyrischen Drama mit einer kindlich anmutenden Begeisterung um, die sich nur wenig fragt, ob und wie von der „Amour fou“ des Werther heute noch glaubwürdig erzählt werden kann.

Wagner versetzt Charlotte in ein zweistöckiges Puppenheim, dessen Bullerbü-Romantik sogar die angedeuteten pädophilen Neigungen des Familienvaters zukleistert (Bühne: Frank Philipp Schlößmann). Die berühmte Mondnachtszene lässt er unbefangen mit einem Fuß durch den Edelkitsch spazieren. So bedient die Regie just die Süßlichkeit, die Massenets üppiger, zugleich aber höchst subtiler Musik ebenso oft wie ungerecht vorgeworfen wurde.

Die Personenführung bereitet peinvolle Momente. Werther muss entweder rennen und mit den Händen fuchteln oder mit starren Fischaugen ins Leere glotzen. Wenn er im Takt der Musik mit der Stirn gegen die Wand schlägt, ist eine Schmerzgrenze erreicht. Gekrönt wird das vom oberlehrerhaft erhobenen Zeigefinger im Schlussgesang. Horcht noch mal her, denn gleich bin ich tot!

Charlotte (Michaela Selinger) findet Werther (Abdellah Lasri) im Schnee gerade noch lebend an (Foto: Matthias Jung)

Charlotte (Michaela Selinger) findet Werther (Abdellah Lasri) im Schnee (Foto: Matthias Jung)

Der Marokkaner Abdellah Lasri, der dies in der Titelpartie umsetzen muss, ist nicht darum zu beneiden. Ihm und der Sopranistin Michaela Selinger ist es zu verdanken, wenn von dieser Neuproduktion doch noch Glanz ausgeht. Lasris Tenor besitzt beachtliche Strahlkraft und eine gelungene Mischung aus Brust- und Falsettstimme. Vehemenz und Fragilität des Werther sind bei ihm gut aufgehoben: Auf sentimentale Schluchzer kann er locker verzichten. Seine Mittellage ist warm und verfügt über schwärmerische, auch grüblerisch getönte Farben.

Dem Tenor zur Seite trumpft Michaela Selinger mit den lyrischen Qualitäten ihrer Stimme auf, aus der mit Charlottes zunehmender Seelenqual auch dramatische Spitzen lodern. Sie formt die Partie überzeugend durch; leichte Ermüdungserscheinungen machen sich erst in der Schlussszene bemerkbar. Christina Clark als vogelleicht zwitschernde Sophie und Heiko Trinsinger als sonorer Albert rahmen die Protagonisten sehr wirkungsvoll ein.

Der französische Dirigent Sébastien Rouland leitet die Premiere mit großen Bewegungen, aber durchaus umsichtig. Nach einem eher grob gezeichneten Beginn finden die Essener Philharmoniker unter seinem Dirigat zu schwärmerischen Klängen, die nicht in die Falle des Sentiments tappen. Die Mondmusik klingt zart und wiegend, die dramatischen Ausschläge sind dunkel, zuweilen aufgeraut expressiv. Emphase und Verzweiflung, Depression und Enthusiasmus fließen auf das Schönste ineinander. Gut einstudiert präsentiert sich der Kinderchor (Patrick Jaskolka), der das Drama mit einem starken Kontrapunkt beendet.

Das öde Schlussbild ertrinkt förmlich in Massen von Kunstschnee, die vom Bühnenhimmel rauschen. Nun ja. Die Natur kann zuweilen auch gnädig sein.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen: http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/werther.htm)

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