Wanderers Seelennot: Franz Schuberts „Winterreise“ im Konzerthaus Dortmund

Christian Gerhaher hat im Duo mit Gerold Huber Maßstäbe in der Liedinterpretation gesetzt (Foto: Jim Rakete)

Christian Gerhaher hat im Duo mit Gerold Huber Maßstäbe in der Liedinterpretation gesetzt (Foto: Jim Rakete)

Mitten in der Nacht stapft er los. Hinaus in den Schnee, durch die schlafende Stadt, weit übers Land, unbemerkt und ohne Ziel. Der einsame Wanderer hat keinen Namen, aber alle Freunde der Musik von Franz Schubert kennen ihn aus zahllosen Liedern.

In ihnen ist der rast- und heimatlose Geselle der Hauptdarsteller: ein ewig Unbehauster, der dem Glück vergeblich nachläuft. Schon einmal ist es ihm entwischt, in dem Zyklus „Die schöne Müllerin“, in dem die Geliebte seine Hoffnungen betrog. Nunmehr ist es Winter, die Liebe quälende Erinnerung, und der Bach, der am Müllerhaus noch munter rauschte, zu Eis gefroren.

Alles, auch die Hoffnung, lässt Schuberts Wanderer bei diesem Aufbruch ins Ungewisse zurück. Wir aber dürfen mit ihm gehen, ihn ein Stück begleiten auf der „Winterreise“, die von Vereinsamung und Depression erzählt, von zunehmender Entfremdung und seelischer Erstarrung.

Wie jedes große Meisterwerk, spiegelt jedoch auch dieses nicht nur die düstere Seite des Lebens. Das haben im Konzerthaus Dortmund zwei überragende Künstler gezeigt: Der Bariton Christian Gerhaher, dessen stupende Stimmkunst die Juroren vom „Preis der Deutschen Schallplattenkritik“ erstmals dazu bewog, einen Sänger mit dem Ehrenpreis der „Nachtigall“ auszuzeichnen, und sein langjähriger Klavierpartner Gerold Huber, mit dem er bereits seit Schülertagen ein festes Duo bildet.

Dieser Gerold Huber also tupft ein paar Akkorde in den Konzertflügel. Er macht äußerlich scheinbar nichts und erschafft doch eine ganze Welt. Wir hören die Schritte des Wanderers im Schnee, schwer und gedämpft. Zahllos sind die Schichten der Melancholie und die Farben der Resignation, die er und Christian Gerhaher im Folgenden vor uns ausbreiten. Es sind die köstlichsten Grautöne, mal bleiern monochrom, mal gespenstisch fahl, mal inwendig leuchtend, als schiene trotz aller Tristesse ein Licht irgendwo hinter den Wolken.

Gerold Huber zählt zu den gefragtesten Liedpianisten unserer Zeit (Foto: Albert Lindmeier)

Gerold Huber zählt zu den gefragtesten Liedpianisten unserer Zeit (Foto: Albert Lindmeier)

Immer kostbarer klingt das im Laufe dieser Reise, zugleich immer weltentrückter und todessehnsüchtiger. Christian Gerhahers lyrischer Bariton kann bei größter Textverständlichkeit schmeicheln, als sänken weiche Flocken in den Schnee. Seine warm timbrierte Stimme klingt in der Mittellage wunderbar samtig, erreicht in der Tiefe die Schwärze eines veritablen Basses und glänzt in der Höhe beinahe knabenhaft hell.

Wo des Wanderers Seelennot an die Oberfläche dringt, schafft das Duo Gerhaher/Huber einen machtvollen Gegensatz zur erstarrten Natur. Da siedet plötzlich heißer Schmerz hervor, da beginnen Begleitfiguren im Klavierpart zu brodeln, da fährt Gerhaher sein vokales Volumen eindrucksvoll aus. Seine Stimme bebt dabei wie von mühsam verhaltenem Zorn. Sie klagt eine fühllose Welt an, der unsere Nöte und Ängste gleichgültig sind.

Das Glück erscheint in diesen 24 Liedern nur als Erinnerung oder Traumvision. Aber Gerhaher und Huber widmen sich ihm mit gleicher, kompromissloser Hingabe. Es klingt nach Idylle, wenn sie die Eisblumen im „Frühlingstraum“ zärtlich nachzeichnen und das Posthorn wie aus einer fröhlicheren Zeit herüber klingt. Von Ferne erinnert dieser Ton noch an die Welt der „Schönen Müllerin“.

Aber die Träume zerfließen, und der Wanderer findet sich in einer unbarmherzigen Wirklichkeit wieder. Er passiert einen letzten Wegweiser, gelangt auf einen Totenacker, versucht sich noch ein letztes Mal Mut zuzusprechen. Gerhaher und Huber tragen das mit einem Trotz vor, der innerlich ausgehöhlt wirkt. Bald schon sieht der Wanderer drei Sonnen am Himmel stehen. In ihrem unwirklichen Licht lässt Gerhaher seine Stimme vollends erblassen. Den „Leiermann“, Symbol der Ausweglosigkeit, singt er so unbeteiligt, als sei jedes Gefühl in ihm erstorben. Gerold Huber lässt dazu eine kleine, ewig wiederkehrende Begleitfigur gespenstisch im Leerlauf drehen. Sie wird leiser, verliert sich, und wir wissen, dass danach nichts mehr kommen kann, dass nur der Tod noch steht und wartet, wartet.

Man möchte schweigen danach, hineinlauschen in die bestürzende Stille. Aber das Publikum gönnt der Musik kein Verklingen, sondern klatscht hemmungslos in den letzten verlöschenden Ton hinein. Derlei Applaus-Inkontinenz ist bei Konzerten zwar häufiger zu erleben. An diesem Abend aber wirkt das so instinktlos-brutal, als habe jemand an einem offenen Grab einen Herrenwitz gerissen.

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