Gewagter Dreiklang: Das Rotterdam Philharmonic Orchestra und Yannick Nézet-Séguin eröffnen die Konzertsaison in Essen

Yannick Nézet-Séguin (l.) und der Pianist Yefim Bronfman. (Foto: Sven Lorenz)

Bemerkenswert früh startet die Philharmonie Essen in die aktuelle Konzertsaison. Noch zeigt das Kalenderblatt nicht September, noch weilt ein Großteil der Mitarbeiter in den Spielzeitferien, da öffnet das Haus bereits seine Pforten, um mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra einen Klangkörper von internationaler Klasse zu präsentieren.

Der Herbst wird weitere illustre Gäste aus dem Ausland bringen: das Mariinsky Orchestra und die St. Petersburger Philharmoniker, das Orchestre des Champs-Elysées, das Mahler Chamber Orchestra, das City of Birmingham Symphony Orchestra und die Londoner Philharmoniker.

Im Jahr des 100. Geburtstags haben die eingangs erwähnten Musiker aus Rotterdam Grund zu feiern. Andererseits gilt es, Abschied zu nehmen. Das Essener Konzert ist eines der letzten unter Chefdirigent Yannick Nézet-Séguin, der das Orchester nach nunmehr zehn Jahren verlässt, um zur New Yorker Met zu wechseln. Sein Nachfolger, der 29-jährige Lahav Shani aus Tel Aviv, wird der bislang jüngste Leiter in der Geschichte des Orchesters.

Yannick Nézet-Séguin dirigiert das Rotterdam Philharmonic Orchestra. (Foto: Sven Lorenz)

Wie ein gewagter Dreiklang scheint die Essener Programmfolge auf den ersten Blick. Haydn, Liszt und Tschaikowsky – kann das denn gut gehen? Muss Joseph Haydns 49. Sinfonie (mit dem Beinamen „La Passione“) nicht erdrückt werden von orchestralen Schlachtrössern wie dem 2. Klavierkonzert von Franz Liszt und der 4. Sinfonie von Pjotr Tschaikowsky? Droht sie nicht zur bloßen Aufwärmübung zu verkommen, zum kleinen klassischen Pflichtstück vor der großen romantischen Kür?

Gründlich und mühelos beweisen die Gäste aus Rotterdam das Gegenteil. Mit höchster Sorgfalt wird hier musiziert, mit geistsprühender Vehemenz und so feiner Phrasierung, dass Haydns Musik unterhaltsamste rhetorische Qualitäten entfaltet. Der fahle, nahezu ohne Vibrato gestaltete Kopfsatz zeugt von der Kenntnis historischer Aufführungspraxis. Seufzermotive klingen edel, Tonrepetitionen bestechend präzise, das Menuett federnd elegant. Es ist ein Auftakt nach Maß: Mit dieser Haydn-Sinfonie präsentiert sich das Orchester in hervorragender Verfassung und glänzender Spiellaune.

Der Pianist Yefim Bronfman, 1958 in Tashkent geboren, ist heute US-Amerikaner. (Foto: Sven Lorenz)

Aus dem 2. Klavierkonzert von Franz Liszt tönt uns erfrischend wenig Theaterdonner entgegen. Dank Yannick Nézet-Séguin und der Kunst des vorzüglichen Pianisten Yefim Bronfman ist Franz Liszt endlich einmal in kompetenten Händen: Wir hören Opulenz statt Schwulst, Verfeinerung statt Kitsch, Triumphales statt Triviales. Wohl gönnt Bronfman uns donnernde Oktaven, dämonisch grollende Bässe und lichtes Geklingel im Diskant. Aber diese Effekte sind eingebunden in eine sinnstiftende Interpretation, die den oft unterschätzten Komponisten als ebenbürtigen Zeitgenossen von Richard Wagner zeigt. So grüßt aus manch zackig punktiertem Rhythmus, aus mancher schimmernd gebrochenen Akkordfolge die Walküre herüber.

Tschaikowskys 4. Sinfonie klingt unter der Leitung des Frankokanadiers eher französisch-elegant als russisch-rau. Machtvolle Fanfaren im Blech, glutvolle Melodik in den Streichern, fein schwebende Holzbläser-Soli zeigen noch einmal das bestechende Können des Orchesters, das Tschaikowskys Sinfonie frei strömen lässt, statt sie blockhaft darzubieten. Freilich klingt uns auch manch extremes Pianissimo, mancher Knalleffekt im Forte entgegen, während die Höhepunkte zwar sehr klangvoll gestaltet sind, jedoch ohne alarmierende oder bestürzende Dramatik. Aber im Allegro con fuoco gibt der sportlich agierende Nézet-Séguin noch einmal ordentlich Gas – und reißt das Publikum damit prompt von den Sitzen.

(Informationen zum Spielplan: https://www.theater-essen.de/philharmonie/spielplan/)

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