Ein einsamer Lichtstrahl schneidet den Konzertflügel aus der Dunkelheit heraus. Die Tür zur Bühne öffnet sich. Herein schreitet ein hünenhaft großer, vom jahrzehntelangen Bodybuilding gestählter Amerikaner.
Tzimon Barto, seit den 1980er Jahren quasi ständiges Mitglied im Kreis der internationalen Pianisten-Elite, geht langsam zum Instrument. Die Zeichen stehen auf Kontemplation. Barto ist im Begriff, seinen Beitrag zur Schubert-Reihe der Philharmonie Essen zu leisten.
Dafür lässt er sich Zeit. Viel Zeit. Eine Stunde und fünfzehn Minuten benötigt er für drei „Moments musicaux“ und die Sonate G-Dur D 894. Um satte 40 Minuten wird er das für 22 Uhr angekündigte Konzertende überschreiten. Aber der Pianist dehnt nicht nur die Tempi, sondern auch den dynamischen Rahmen seines Vortrags. Über weite Strecken murmelt er Schuberts späte Klavierwerke im sanftesten Pianississimo vor sich hin. Harsche Fortissimo-Ausbrüche schockieren, sinken alsbald aber wieder in den säuselnden Strom der Musik zurück.
So absurd das zuweilen anmuten mag, so konsequent hält Barto diesen Ansatz durch. Er verweigert dem Publikum einen Wohlfühl-Schubert. Im Zentrum dieser späten Klavierwerke, per se eine Musik an der Grenze zum Verstummen, steht bei ihm eine große Leere. Seine Schubert-Interpretationen sind ein Exerzitium der Stille, eine Meditation über die Verlorenheit des Menschen und die Gebrochenheit unserer Existenz. Bartos Schubert muss man aushalten, ja im Wortsinne durchsitzen. Sein Klavierklang aber ist schlichtweg herrlich: rund und volltönend im Bass, leuchtend im Diskant, wunderbar farbenreich und warm in den Mittellagen. Indes führt Barto diesen Reichtum nicht vor, sondern nimmt ihn häufig bis zur Unhörbarkeit zurück.
Wie ein frischer Windstoß wirken da die Sechs Etüden des 1980 geborenen Briten George King, der vor zwei Jahren den von Barto ins Leben gerufenen Kompositionswettbewerb gewann. Nahezu frohgemut hämmert Barto ihre maschinenhafte Motorik in die Tasten, erfreut sich an rasenden Tonrepetitionen, bleibt im Andante aber doch einem poetischen Duktus treu.
Warum sich Barto in der Schubert-Sonate leichte Fehlgriffe leistet, ist angesichts solcher Fingerfertigkeiten nachgerade rätselhaft. Obgleich er bewusst nicht auswendig spielt, um Genauigkeit und einen lebendigen Dialog mit dem Notentext zu erzielen, scheint er in der Sonate zuweilen verkrampft an den Noten zu kleben. Manches Ländler-Thema klingt da seltsam hölzern. Auch wirkt es unfreiwillig komisch, wenn Barto zwischen dem ersten und zweiten Teil eines Themas geräuschvoll umblättern muss.
Nach vier weiteren Impromptus, die im Andante vollends zu versanden drohen, ist es geschafft. Nicht ohne Grund gibt Barto den herzlichen Beifall am Ende an sein aufmerksames Publikum zurück, das sich selbst von einem losplärrenden Handy nicht aus der Konzentration reißen ließ.
(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)