Unsagbares Leiden am Verlust der Tugend – Werner Schroeter inszeniert Racines „Phädra“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Grau in Grau dunkelt der karge Raum; vielleicht ein Wartesaal in alle Ewigkeit, eine Gruft, eine Einbunkerung. Hier, so scheint es, können keine Leidenschaften mehr glühen, hier gibt es nur noch die Asche. An solch einer Stätte lässt der Regisseur Werner Schroeter seine Bochumer Inszenierung der „Phädra“ (1677) von Jean Racine (in Schillers Übersetzung von 1804) spielen.

Alle Personen betreten die Bühne zugleich. Fortan gibt es keine Auf- und Abgänge mehr. Wer nicht spricht, bleibt dennoch da, setzt sich auf jene umlaufende Bank am Bühnenrand, mit unbewegter Miene. Alle Gestalten befinden sich stets auf der Szene. Gerade deshalb wirken sie, als seien sie nur geisterhaft vorhanden. Hören wir etwa einem Gespräch der toten Seelen zu?

Verbotene Liebe: Phädra begehrt ihren Stiefsohn Hippolyt. Als die Nachricht vom vermeintlichen Tod ihres Gatten, des Königs Theseus, eintrifft, offenbart sie ihre inzestuösen Gefühle. Hippolyt (Andreas Pietschmann) weist sie ab, denn er liebt Aricia (Annika Kuhl), die aus feindlichem Geschlechte stammt. Noch so eine „unmögliche“ Leidenschaft.

Theseus aber hat seine Kriegsabenteuer doch überlebt und kehrt heim. Die verwirrte Phädra erliegt den Einflüsterungen ihrer Vertrauten Oenone (Eva-Maria Hofmann) und lässt es zu, dass diese den Spieß umdreht und Hippolyt beim Vater anschwärzt: Sein Sohn habe Phädra verführen wollen.

Der Rest ist Verdammung, ist Tod im Wasser (Oenone), durch ein Ungeheuer (Hippolyt) und durch Gift (Phädra).

Beschwörung in abgezirkelten Sätzen

Auf der Bühne geschieht derweil nicht viel, es wird alles nur – in abgezirkelten Sätzen beschworen. Schroeter hat eine einleuchtend strenge Form gefunden, die ein wenig an japanisches Traditions-Theater erinnert. Ein Gong und anderlei leichtes Schlagwerk begleiten die Sprech-Akte. Die Nebenfiguren balancieren mit Stangen oder pflanzen sie neben sich auf, als gelte es, ein Samurai-Ritual zu bestehen.

Der Boden ist gläsern, wirft gespenstische Spiegelungen zurück, von unten dringt Licht herauf. Auf solch unsicherem Geläuf werden die Schritte zumeist vorsichtig gesetzt wie auf zu dünnem Eis. Deutliche Kontrapunkte zu allem, was man „Bochumer Spaßtheater“ zu nennen beliebt.

Eine Glaskugel rollt über den Glasboden

Spannend ist es zu verfolgen, wie die Sprache das Regiment übernimmt, wie die Personen die Schwellen zu ihren vielfach fälligen Liebes- und Schuld-Geständnissen überwinden. Freilich gibt es ein paar „verlorene“ Regie-Ideen, die sich im Kontext nicht recht erschließen wollen: Mit Kreide wird das Wort „gern“ an die Wand geschrieben. Zwischendurch rollt eine Glaskugel über den Glasboden. Selbstgenügsame poetische Zeichen?

Es ist der große Abend der Margit Carstensen, die aus dem insgesamt sehr inspirierten Ensemble herausragt. Sie ist eine höchst zerbrechliche Phädra, unsagbar leidend am Verlust der Tugend, aber wohl auch am heraufziehenden Alter und dem Verlust erotischer Vorzüge. Eine gespaltene, schwankende, wahrlich geisterhafte Gestalt, ganz in Weiß und schon dem Tod anheimgegeben.

Theseus (Ralf Dittrich) erscheint hier moralisch fragwürdiger und gewissenloser als Phädra – in seinen verblendeten Zorneslaunen, die sich wechselweise gegen Götter, Sohn und Gattin richten. Auf seinen Feldzügen verübte er stets (sexuellen) Frauenraub, doch duldet er selbst keine Untreue. Wer da nicht zum „Feministen“ wird…

Langer Beifall, etliche Bravos für Regie und Darsteller.

Termine: 11., 14., 17., 23.12. Karten: 0234/33 33-111

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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