Ganz entspannt und an Erfahrung reich – Neueste Bilder des 96-jährigen Heinrich Siepmann in Mülheim

Von Bernd Berke

Mülheim/Ruhr. Da wird sogar die Zeitung mit den großen Buchstaben plötzlich wild auf kulturelle Erscheinungen: Wenn nämlich einer wie Heinrich Siepmann, inzwischen 96 Jahre alt, angeblich immer noch täglich an der Staffelei steht und – Zitat aus „Bild“ – ganz „geil aufs Malen“ ist.

Mag schon sein, dass der legere Siepmann sich so einen Ausruf hat entlocken lassen. Doch er enthält nicht die ganze Wahrheit. Zwar drängt es den betagten Mülheimer Künstler weiterhin zum Schaffen, aber nicht mehr mit genuin malerischen Mitteln, denn den Pinsel vermag ei nicht mehr richtig zu führen. Wie gut, dass ihm die Familie, allen voran seine rund zwanzig Jahre jüngere Frau Trude, treulich beisteht.

Heinrich Siepmann hat sich auf flüchtig bemalte Collagen sowie Pastelle verlegt. Doch das Formempfinden, in vielen Jahrzehnten geschult, hat ihn nicht im Stich gelassen. Der Geist ist wach.

Toilettenrollen und Tapete als Material

Recklinghausen präsentierte 1999 eine große Retrospektive zum Gesamtwerk, nun bekommen wir neueste Arbeiten zu sehen: Das Mülheimer Museum in der „Alten Post“ zeigt rund 50 Siepmann-Exponate, die allesamt anno 2000 entstanden sind. Und das ist nur etwas ein Drittel seiner Produktion im letzten Jahr. Man müsste sich vor dieser schöpferischen fast verneigen.

Collage also, titellos und fortlaufend durchnummeriert: C 1, C 2 usw. Nicht immer bis in die letzte Verästelung präzise, doch stets subtil austariert sind die Linien und Flächen der abstrakten Formationen. Beim Rohmaterial, das im künstlerischen Prozess völlig überformt wird, denkt man zuweilen an jene ärmlichen Nachkriegszeiten, als Siepmann der in Recklinghausen gegründeten Gruppe „Junger Westen“ angehörte – mit Thomas Grochowiak, Gustav Deppe, Emil Schumacher. Weltberühmt wie Schumacher wurde der entschiedene Sozialist freilich nie. Er blieb immer ein wenig im Schatten des Hageners.

Etwas von der anfangs zwangsläufigen Genügsamkeit scheint sich Siepmann jedenfalls bewahrt zu haben: In seinen Collagen verwendet er Papiertüten, Pappkerne von Klorollen, Ausrisse von Rauhfasertapete. Doch das bemerkt man erst beim zweiten Hinsehen. Auf den Bildern werden diese Dinge zu Geraden, Diagonalen und Farbfeldern. Die grafische Wirkung zählt.

Es sind spontane Setzungen, gesättigt mit Erfahrung. Wunderbar leicht fügen sich die meist auf Fotokarton geklebten Elemente zueinander. So, als könnte es gar nicht anders sein. Besonders auf den kleinen dreiteiligen Kompositionen (Triptychen) ergibt sich ein luftiges Auf und Ab der Formen, das schlichtweg die Seele des Betrachters erhebt.

Den Sylter Sand mit Händen greifen

Es ist eine entspannte, abgeklärte Kunst, aus der hie und da ein Schmunzeln zu leuchten scheint. Essenzen eines langen Künstlerlebens: Das gegenstandsferne, expressive Informel hat Siepmann ebenso durchschritten wie strengere, konstruktive Exerzitien, doch niemals ohne Seitenblicke auf die reale Dingwelt. Noch immer ist beides unaufdringlich gegenwärtig: die wirklichen Vor-Bilder und ihre künstlerische Überschreitung.

Frappierend die mit Pastellkreide gestalteten Blätter, meist auf Sylt entstanden. Obgleich sie gänzlich abstrakt scheinen, meint man doch, Meeresbläue zu sehen, die Brise zu spüren, den Sand mit Händen greifen zu können.

Heinrich Siepmann – 2000. Museum „Alte Post“, Mülheim/Ruhr, Viktoriaplatz 1. Ab heute, 15. Februar (Eröffnung 19.30 Uhr in Anwesenheit des Künstlers), bis 16. April. Di/Mi/ Fr 11-17 Uhr, Do 11-20Uhr. Sa/So 10-17 Uhr. Kein Katalog..

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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