Mit Melodien durch die Liebeswirren gleiten – Kinofilm „On connaît la chanson“ von Alain Resnais

Von Bernd Berke

Marc hat ganz gerötete Augen. Die Tränen fließen. Er schneuzt sich in sein Taschentuch. Camille will mit ihrer Schwester Odile eine Wohnung besichtigen und erscheint verfrüht am Treffpunkt. Sie glaubt, daß der Mann richtig weint – und schon beginnt sie, sich in den offenbar empfindsamen Menschen zu verlieben. Doch der Kerl erweist sich später als eiskalter Immobilienmakler. Und das Taschentuch? Nun ja, eine simple Erkältung.

Beileibe kein Einzelfall in Alain Resnais‘ Film „On connaît la chanson“ (etwa: „Man kennt das Lied“). Jede Geste ist schon ein halbes Mißverständnis – oder eine bewußte Maskierung wahrer Absichten und damit Quell des Unglücks.

Das Besondere an diesem Meisterwerk: Resnais verfremdet die vielfach verwobenen Episoden seines Liebesreigens sinnreich und kunstvoll mit Musik. Mitten in den Szenen und Sätzen legt er den männlichen und weiblichen Stadtneurotikern plötzlich lippensynchron Schlager und Chansons in den Mund. Danach, als sei nichts gewesen, reden die Leute weiter wie gehabt.

Die verwendeten Melodien kennt in Frankreich jedes Kind, und auch für unsere Ohren klingt mancher Ton vertraut. Völlig klar, daß ein solch spezifisch französischer Film im Original mit deutschen Untertiteln ins Kino kommt. Was klingt wohl zärtlicher: „Ich liebe die Mädchen“ oder „J’aime les filles“?

Tröstliche Floskeln des Liebeslebens

Hier also kann es sogar geschehen, daß auf einmal Sylvie Vartan oder France Gall einem verliebten Gockel ihre Stimmen leihen, daß eine Frau wie Charles Aznavour oder Gilbert Becaud singt. Anfangs nimmt man solche gezielten Stimm-Brüche mit leichtem Stirnrunzeln zur Kenntnis. Doch die Sache geht wundersam schwebeleicht auf.

Amüsiert vernimmt man die gelegentlich „trivialen“, zuweilen aber einfach tröstlichen Formeln und Floskeln des Gefühlslebens. Erhellend komisch sind die Kontraste zwischen der Schwerkraft des Lebens, und dem Leichtsinn der Lieder. Und man spürt: Sogar das Leiden an der Liebe ist manchmal zum Lachen, aber kein Liebender ist als solcher lächerlich…

Die Chemie der Beziehungen gerät jedenfalls schön durcheinander: Die anfangs erwähnte Camille (Agnes Jaoui), die sich mit Stadtführungen durch Paris ihr Studiengeld verdient, wird insgeheim von Marcs zerstreut-sensiblem Hilfsmakler Simon (André Dussollier) angebetet. Der gibt sich als Hörspielautor aus, weil das nicht so elend prosaisch klingt.

Wenn alle einander im Unklaren lassen

Camilles Schwester Odile (Sabine Azéma) begegnet derweil ihrer alten, längst verheirateten Jugendliebe Nicolas und gerät darob über ihren stets ermatteten Gatten Claude ins Grübeln: „Meine Ehe ist nicht übel. Eigentlich ganz normal“, sinniert Odile. Doch wie sehnsuchtsvoll sie dabei in unbestimmte Fernen blickt! Und dann spitzt sie die Lippen zu einem Liebeslied, das die laue Zufriedenheit vollends verneint.

Claude und Nicolas halten ihrerseits heimlich Ausschau nach neuen Frauengeschichten. Bei jener Party, mit der Odile und Claude am Ende ihre neue Wohnung einweihen, kulminieren und kollabieren all diese Verhältnisse. So lange es nur irgend ging, haben diese Menschen einander im Unklaren gelassen. Sie haben falsche Berufe erfunden und sich falsche Gefühle angemaßt. Aus Angst vor dauerhafter Verantwortung, aus Verstellungslust oder aus purer Depression.

Doch von derlei Erdenschwere spürt man kaum einen Hauch, so charmant und elegant gleitet dieser Film daher.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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