Sprache frißt Liebe auf – Goethes Trauerspiel „Clavigo“ im Essener Grillo-Theater

Von Bernd Berke

Essen. Mit seinem Trauerspiel „Clavigo“ machte Goethe 1774 nicht viel Federlesens. Nach einer Art Wette im traulichen Kreise hat er das Drama binnen einer Woche sozusagen „hingefetzt“. Doch das Stück hat Bestand. Goethe war eben gut. Nun eilt ihm das Essener Schauspiel hinterher und hält sich an die alte Fußball-Weisheit: „Das Spiel dauert 90 Minuten“. Schöne Kurzweil?

Clavigo (Denis Petkovic) befindet sich auf dem Karrieretrip, er rechnet sich Chancen beim spanischen Hofe aus. Als Star-Autor läßt er sich gern von liebenden Musen beflügeln, doch rasch langweilen sie den Sturm- und Drang-Menschen auch wieder. Folglich hat er die süße Französin Marie sitzenlassen, also schmählich entehrt.

„Daß man so veränderlich ist!“, staunt der Wankelmütige über sich selbst. Denn zwei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust. Auch ein romantischer Träumer glaubt er zu sein und als solcher meint er Gewissensbisse zu haben. Doch die werden ihm vom Einflüsterer Carlos (stark: Manfred Meihöfer) geradezu mephistophelisch ausgeredet – im Sinne schrankenloser Selbstverwirklichung, die dem Genie zustehe. Frauen schänden? Na, klar! Wenn’s dem eigenen Fortkommen dient…

Der Rechthaber als Springteufel

Gegenspieler Beaumarchais schnellt in Essen wie ein Springteufel auf die Bühne. Der Ehrenmann ist nach Madrid geeilt, um seine Schwester Marie (puppenhaft naiv: Sigrid Burkholder) zu rächen. Anders als bei Goethe, läßt er sich hier in diesem brennenden Wunsch nie erweichen. Seine erste Unterredung mit Clavigo beginnt mit gewundenen diplomatischen Floskeln, doch bald fällt die Maske: Mit blutroten Handschuhen angetan, will sich der Rechthaber am Feinde nur gewaltsam gütlich tun. Überhaupt verbirgt die schöne Sprache diesmal nur Falschheit, ja, sie erweist sich im Lichte der wahren Triebe und Interessen als Gesülze. Deutlich wird die liebes- und lebensfressende Gewalt wohlgesetzter Worte bei gleichzeitiger Seelenkälte.

Versöhnung gibt‘ s in der Essener Inszenierung (Regie: Erich Sidler) nicht, höchstens Kumpanei. Und wo bei Goethe die finalen Todesfälle empfindsam beredet werden, ist’s in Essen flugs getan: ein Stich, ein Satz, vorbei.

Am Ende die rohen Tat-Sachen. Unbehauste Welt: keine Möbel, fast keine Gegenstände (Bühne: Miriam Möller). Man sieht anfangs nur einen breiten, ganz flachen „Cinemascope“-Ausschnitt mit blaßblauem Hintergrund. Dieser Einblick, der Distanzen und Künstlichkeit betont, weitet sich langsam, zugleich sinken die Figuren allmählich zum Bühnenboden herab. Vom Himmel des Idealismus werden sie herabgeholt, stellenweise auch etwas achtlos herabgezerrt. Doch einen interessanten Ansatz, das Stück bei den Hörnern zu packen, hat man gefunden. Der Text hält es aus.

Termine: 9., 23. April, 2., 17. Mai. Karten: 0201/8122-200.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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