Todgeweihter Mann mit Checkliste – Françoise Sagans Roman „Und mitten ins Herz“

Von Bernd Berke

Gleich auf der ersten Seite von Françoise Sagans neuem Roman „Und mitten ins Herz“ erfährt der Pariser Architekt Matthieu, daß er wegen Lungenkrebs höchstens noch sechs Monate zu leben habe. Schrecklich. Was wird er tun?

Er gerät nicht ins Stammeln, sondern hat sich sprachlich unter Kontrolle: „Von allem, was noch zu entdecken gewesen wäre, hieß es Abschied nehmen“, sinniert er in der Übersetzung gedrechselt. Nur selten denkt er wirr: „Die kommenden sechs Monate würden also nicht nur grausam, sondern auch noch unerquicklich werden“, findet er. Ist unerquicklich denn schlimmer als grausam?

Matthieu spürt seinen Empfindungen so systematisch nach, als habe er eine Checkliste: Noch einmal den vollen Rausch des Daseins genießen, endlich mit sich ins Reine kommen und „wesentlich werden“, Selbstmord begehen, bevor ihn die Schmerzen übermannen. All dies und vieles mehr hakt er routiniert ab. Von der Bedrängnis eines Todkranken spürt man wenig. Immerhin blinkt einmal schwarzer Humor auf: Matthieu freut sich diebisch, daß er nun keine Francs mehr in die Parkuhren werfen muß, denn die Mahnungen werden ihn eh zu spät erreichen…

Natürlich ist dieser Matthieu auch ein Frauenschwarm. Wir sind in Paris! Die mit etwas verblassendem Ruhm behangene Sagan („Bonjour Tristesse“, „Lieben Sie Brahms?“) bzw. die Übersetzerin gewinnen diesem Umstand solche Formulierungen ab: „Seit kurzem hatte er einen ziemlich heftigen Flirt mit diesem unbefangenen, hübschen Pflänzchen, das mit seinen Reizen nicht geizte.. .“ Oder solch einen Satz, wie von zerschlissenem Brokat: „Das Licht hatte sich durch die schweren Vorhänge gestohlen, die ihr Liebesspiel vor dem hellen Nachmittag verbargen.“

Mit der schlimmen Nachricht bei den Frauen hausieren

Jedenfalls klappert Matthieu an diesem einzigen Tag, den der Roman nahezu in „Echtzeit“ schildert, hübsch nacheinander die Hauptadressen seines Lebens ab, denn er will allen die medizinische Wahrheit über sich verraten: der jungen Geliebten Sonia, der etwas älteren Ex-Geliebten Mathilde, der Ehefrau Hélène und seinem besten Freunde auch.

Die Reaktionen enttäuschen Matthieu. Diese Menschen wissen seinen nahenden Tod nicht recht zu würdigen, sie sind im Grunde nur mit der Wirkung des drohenden Verlustes auf sich selbst befaßt – bis auf jene frühere Geliebte, die er nach etlichen Jahren der Trennung aufs Geratewohl besucht. Mathilde will sich, wie er wohlwollend zur Kenntnis nimmt, mütterlich um ihn kümmern: „Sie würde alles für ihn tun: Sie würde sein Leiden und Sterben mit ihm teilen und ihm die Augen schließen.“

Gar nicht nötig. Denn am Ende geschieht das, was jeder halbwegs versierte Leser spätestens nach der Hälfte des Buches ahnt: Matthieu bekommt einen Anruf und erfährt, daß die morgendliche Krebs-Diagnose ein bedauerlicher Irrtum gewesen sei. Der Tod ist wie ein „Ätsch!“-Effekt. Und der Roman nur ein Geplänkel.

Françoise Sagan: „Und mitten ins Herz“. Roman. Aus dem Französischen von Kirsten Ruhland-Stephan. Ullstein-Verlag, 188 Seiten, 34 DM.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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