Neuer Grass-Roman erhitzt die Gemüter – Heftiger Streit nach Reich-Ranickis Verriß im „Spiegel“

Von Bernd Berke

Schon lange hat es keine solch heftige Debatte mehr über Literatur gegeben wie jetzt, anläßlich des neuen Grass-Romans „Ein weites Feld“. Anlaß zur Freude? Nicht bei näherer Betrachtung. Denn es geht ja kaum noch um Literatur.

Für Aufruhr sorgt der gestrige „Spiegel“. Marcel Reich-Ranickis mehr als barsche Kritik an dem Buch („ganz und gar mißraten“) lieferte die Titelgeschichte, und eine Fotomontage auf dem Cover zeigt den gefürchteten Rezensenten-Papst, wie er Günter Grass‘ 784-Seiten-Opus buchstäblich in der Luft zerreißt – ritsch, ratsch! Reichlich geschmacklos, fürwahr.

Offenbar geht das Kalkül auf: Das Hamburger Magazin provozierte genau die Reaktionen, die es wohl beabsichtigt hatte. Grass selbst hat dem „Spiegel“ gestern den Abdruck eines fertigen Interviews untersagt. Der Göttinger Grass-Verleger Gerhard Steidl ließ es sich nicht nehmen, Reich-Ranicki einen „Harald Juhnke der Literaturkritik“ zu nennen. Und vor dem „Spiegel“-Gebäude stellte sich ein Häuflein von Demonstranten ein, das besagtes Titelbild mit dem iranischen Mordaufruf gegen Salman Rushdie und mit der NS-Bücherverbrennung 1933 in vage Beziehung setzte. Andere waren umsichtiger mit ihren Vergleichen.

Sperrfrist wurde zur Farce

Steidl hatte nicht weniger als 4500 Vorab-Exemplare vom „Weiten Feld“ an Kritiker und Freunde des Hauses verschickt, viele Autoren kommen pro Buch nicht mal auf eine vergleichbare Gesamtauflage. Schon damit war die ursprünglich vom Verlag genannte „Sperrfrist“ für Rezensionen („nicht vor dem 28. August“) eigentlich zur Farce geworden. Es begann denn auch folgerichtig allüberall eine Art Schnellesewettbewerb. Als dann das ZDF-Kulturmagazin „Aspekte“ und „Das Literarische Quartett“ (Vorsitz: Marcel Reich-Ranicki) vorfristig zur kritischen Tat schreiten wollten, als dann gar der Band in den Schaufenstern des Buchhandels auftauchte, gab’s kein Halten mehr: Jeder wollte mit seiner Rezension zuerst am Start sein.

Der „Spiegel“ wiederum hatte mit dem Steidl-Verlag einen exklusiven Vorabdruck aus dem Roman vereinbart, der durch die frühzeitige Verbreitung des Buchs praktisch hinfällig war. Für den entgangenen Coup, so kann man mutmaßen, haben die Hamburger jetzt bittersüße Rache genommen. Hat etwa „Spiegel“-Kulturredakteur Hellmuth Karasek seinem Mentor und Mitstreiter vom „Literarischen Quartett“, Reich-Ranicki, eine furiose Titelstory versprochen, wenn, ja wenn er nur gnadenlos gegen Grass zuschlage? Natürlich ist es nicht so gewesen. Und es war gewiß nur Zufall, daß Reich-Ranicki noch im April ’95, als Grass in Frankfurt erstmals Auszüge aus dem Buche las, noch wohlabgewogene Lobesworte für den Autor gefunden hat…

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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