Abstieg in die Hölle – Richard Fords Roman „Kanada“

Wenn die ersten Sätze eines Romans wirklich gut sind, fangen sie den Leser sofort ein, geben sie den Takt vor, deuten an, wohin die Reise gehen wird und wie der Autor seine Expedition in unbekanntes Gelände anpacken will.

Richard Ford, der mit seinen Romanen über den Sportreporter und Immobilienhändler Frank Bascombe Literaturgeschichte schrieb und seit Jahren als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt wird, weiß um die Kraft und die Faszination des Anfangs. Aber so frontal wie in seinem neuen Roman „Kanada“ ist auch Ford noch nie in einen Roman eingestiegen: „Zuerst will ich von dem Raubüberfall erzählen, den meine Eltern begangen haben. Dann von den Morden, die sich später ereigneten. Der Raubüberfall ist wichtiger, denn er war die entscheidende Weichenstellung in meinem Leben und in dem meiner Schwester. Wenn von ihm nicht als Erstes erzählt wird, ergibt der Rest keinen Sinn.“

Ein Anfang wie ein episches Theaterlehrstück von Brecht: Die wichtigsten Ereignisse werden laut ausposaunt, jetzt geht es um Erkenntnisgewinn und Anleitung zum Handeln. Doch seltsam, wer glaubt, die Spannung würde beim Leser sogleich auf den Nullpunkt sinken, täuscht sich gewaltig: Dringend will man erfahren, wie alles passierte und welche Auswirkungen der Raubüberfall und die Morde auf das Leben des Ich-Erzählers hatten.

„Der Sportreporter“, „Unabhängigkeitstag“, „Die Lage des Landes“: Schon das waren große Romane, in denen Richard Ford das ebenso moderne wie archaische, ebenso faszinierende wie widersprüchliche Amerika literarisch vermessen hat. „Kanada“ ist sein Meisterstück. Es handelt von Angst und Verlust, von der Zerstörung einer Familie und davon, dass wir aufhören sollten, unaufhörlich nach dem Sinn des Lebens zu suchen.

Sich anpassen an die Gegebenheiten, das Gute in den alltäglichen Dingen suchen, nach Niederlagen immer wieder aufstehen und wie Sisyphos den Stein auf den Berg hinauf rollen: Das ist die Grundhaltung, die den 16-jährigen Dell Parsons überleben lässt. Jetzt, 50 Jahre später, berichtet er, welche Folgen es hatte, dass seine Eltern nicht zusammenpassten, der Vater nach seinem Militärdienst im bürgerlichen Leben nicht Fuß fassen konnte, seine Mutter sich als Lehrerin durchschlug und eigentlich lieber Künstlerin geworden wäre. Weil das Geld für ein auskömmliches Leben in der der Kleinstadt Great Falls/Montana nicht reicht, überfallen Dells Eltern im Jahr 1960 eine Bank und werden verhaftet: für Dell und seine Schwester Berner das Ende aller Gewissheiten und der Aufbruch ins Ungewisse. Der Vater nimmt das Schicksal gefühllos und fatalistisch hin, die Mutter legt in einem Tagebuch Rechenschaft ab und begeht im Gefängnis Selbstmord.

Um nicht ins Heim gesteckt zu werden, flieht Berner nach San Francisco, nimmt Drogen, wohnt in besetzten Häusern. Dell wird von der Freundin seiner Mutter zu einem Verwandten nach Kanada gebracht. Doch was für Dell die Rettung werden soll, wird zum Abstieg in die Hölle. Denn der Junge landet bei dem Hotelbesitzer Arthur Remlinger, einem Mann mit dunkler Vergangenheit, einem glühenden Fanatiker und gewaltbereiten Weltverbesserer. Vor Jahren hat er in Detroit bei einem Terroranschlag getötet. Und er wird wieder morden. Kalt und zynisch wird er zwei eigens aus den USA angereist Detektive abknallen wie streunende Hunde.

Dell kann sich nicht allein aus den Fängen dieses diabolischen Mörders befreien, er braucht – wieder – die Hilfe einer Frau, die ihn rettet und sein Leben in die Hand nimmt. Während die Männer, die Väter und Ersatzväter, gewissen- und gedankenlos agieren, behalten die Frauen klaren Kopf und eindeutige moralische Positionen. Es ist, als wandle Dell durch einen surrealen Albtraum. Wie in Trance erlebt er das Trauma des Unbehausten, das Drama des Verwaisten. Richard Ford zeigt, wie schnell die Normalität in Wahnsinn umkippen kann und wie der Zufall darüber bestimmt, welche Richtung das Leben nimmt. Es ist ein lebenspraller und weiser, ein überwältigender und bei aller Melancholie doch auch befreiender Roman.

Dell, der nach dem Tod seiner Schwester auf die Launen des Schicksals und die unabwendbaren Katastrophen blickt, tröstet sich mit dem Gedanken, dass man bessere Überlebenschancen hat, wenn man mit Verlusten umgehen kann und es schafft, das Gute im Ganzen zu suchen: „Wir versuchen es. Wir alle. Wir versuchen es.“

Richard Ford: „Kanada“. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. Hanser Berlin, 464 Seiten, 24,90 Euro.

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