„Auf zum Rachefeldzug, zu führen von mir als Einzelperson.“ So ermuntert sich selbst, vor dem Spiegel einen vielleicht bedrohlichen Singsang vollführend, das literarische Ich in Peter Handkes „Das zweite Schwert“. Was geht da vor sich? Droht tödliche Gefahr?
Man erschrickt unwillkürlich. Will der Literaturnobelpreisträger Handke (der sich in etlichen Passagen – kaum verhüllt – hinter dem Erzähler verbirgt) etwa noch einmal zum Rundumschlag gegen alle verhassten Widersacher in der unseligen Serbien-Debatte ausholen, will er sie final demütigen oder gar verbal erledigen; setzt er noch einmal zu einer „Publikumsbeschimpfung“ an? Oh nein, so platt geht es hier gewiss nicht zu! Vielmehr scheint abermals alles den Bewegungsgesetzen des mal mäandernden, mal stockenden, aber nie versiegenden Erzählflusses an sich zu folgen.
So viele Kommata! So viele Einschübe! So viele Gedankenstriche! All die Sätze sind eben nicht einfach da, sie müssen vielfach errungen werden, um manchmal zu erstrahlen. Obgleich es vermeintlich um dringliche „Rache“ geht, ergeht sich Handke zumeist und zunehmend in einer äußerst sanftmütigen und zartsinnigen Sprache, mit geradezu flehentlichen Aufrufen an sich selbst und an die Leserschaft: „Wieder siehe!“ – „Und hör“ – „Und da schau her“ – „Und so hör doch…“ Der Erzählende schreitet erneut auf den Pfaden der wahren Empfindung; es geht um genaueste, einlässlichste Wahrnehmung.
Diese ungeahnte „Ortsfreude“
Die Geschichte, in der äußerlich nicht allzu viel (oder aber alles) geschieht, spielt weiter draußen vor den Toren von Paris, in der Ferienzeit zwischen Ostern und Anfang Mai. Sie heißt denn auch im Untertitel „Eine Maigeschichte“. Der Erzähler ist für eine Zeit zurückgekehrt in sein abgelegenes vorstädtisches Domizil, er registriert dabei eine ungeahnte „Ortsfreude“, fühlt sich heimisch wie selten zuvor.
Wir vernehmen fortan das Lob der kleinen, unscheinbaren Dinge, Leute und Verhältnisse. In Betracht kommen verschiedene Formen des Grillrauchs, Wäscheleinen („steckvoll“), aber auch abendliche Aufenthalte in der nahen Bar, auf ihre bescheidene, unauffällige Art bemerkenswerte Menschen aus der Nachbarschaft. Bei all dem verspürt der Ich-Erzähler eine namenlose Freude am Nichtstun. Er betont, dass er kein (angestrengter) Betrachter und Beobachter sein wolle. Es ist ihm um ein absichtsloses Gewahrwerden zu tun – wie in einem Wachtraum.
Nicht „gleichsam“ und nicht „sozusagen“
Immer und immer wieder verleiht Handke mit seinen Lieblingswendungen sanften Nachdruck: „Noch und noch“ heißt es da beispielsweise. Oder „nicht und nicht“. Oder „oft und oft“. Demgegenüber hin und wieder auch Formeln des Offenlassens: „oder was das war…“ – „oder so…“ Hingegen ermahnt er sich häufig selbst, unscharfe Worte wie „gleichsam“ oder „sozusagen“ zu vermeiden. „Nicht dieses Wort…“
In einem jener Bar-Gespräche wird offenbar erwogen, zu Rachezwecken einen Killer anzuheuern. Denn da war eine Journalistin, die vor längerer Zeit die Mutter des Erzählers zutiefst und unauslöschlich beleidigt hat – mit der Unterstellung, die Mutter habe „damals“ die NS-Machthaber bejubelt und in Österreich willkommen geheißen. Ist der Sohn also, gefährlich bewaffnet, unterwegs zu jener Schreiberin? Und wie könnte man seine zwiegespaltene Geistesverfassung nennen? Vielleicht ein hellsichtiges Brüten?
Im Schreiben bleibe alles friedlich
Dann jedoch wieder die beinahe zaghafte Selbstbefragung in Sachen Gewalt. Ja, es habe in seinem Leben gewaltsame Taten gegeben, auch gewaltsam gesprochene Worte, aber nie geschriebene. „Seit jeher war mir solch ein Schreiben, Aufschreiben, Schriftlichwerden tabu.“ Die Literatur, das Schreiben überhaupt als Bezirk des Friedens, der Streitlosigkeit.
Die Erzählung mündet in ein langsames, aufmerksames Unterwegssein, vorwiegend mit einer neuen Vorort-Tram, die streckenweise unterirdisch fährt – durch eine Gegend, die vordem dschungelhafte Heimstatt einer geheimnisvollen Schlange gewesen ist, was archaisch und nahezu biblisch anmutet; wie denn auch der Titel des Buches auf einen Abschnitt im Lukas-Evangelium zurückgeht, der Handke als Vorspruch dient.
Von Eric Burdon zu Blaise Pascal
Und welche geheimnisvollen Szenen sich nun begeben – in dieser Bahn mit ihren seltsamen Passagieren. Ihr Dasein erscheint wie ein traumnahes Lebenstheater, es geschieht einfach. Und wie nun vieles fließend ineinander übergeht: der Dialog mit einem Taxifahrer über den Rocksänger Eric Burdon („When I Was Young“), ein geradezu andächtiger Tages-Aufenthalt in Port-Royal, nicht zuletzt in Gedanken an den Philosophen Blaise Pascal, dem Langeweile als die schändlichste Todesart gegolten habe. Ferner die Reflexion über das unverzeihliche Verbrechen des Rechtsmissbrauchs, des Übertreibens der eigenen Rechte („ohne jeden Milderungsgrund“). Überdies das Abwägen der (vom Erzähler eingestandenermaßen oft ignorierten) Menschheits-Katastrophen mit dem Überleben der Maikäfer… Und was der vielfältigen Dinge mehr sind. Wahrlich ein „Heiliges Durcheinander“, wie es einmal heißt.
In Wohlgefallen aufgelöst
Auch Port-Royal gerät zur Heimkehr: „Jetzt hatte ich ihn, meinen Platz, meinen Jetztplatz!“ Anflüge von Menschenscheu und Menschenhass scheinen sich im Erzählvorgang zusehends zu lindern, scheinen irgendwann umzuschlagen in eine milde, so ziemlich alles gelten lassende Betrachtungsweise. Der Zorn hat sich, wie man ehedem zu sagen pflegte, allmählich in Wohlgefallen aufgelöst. Hat sich damit gar alle Rache erübrigt? Nicht ganz. Aber sie hat sich grundlegend gewandelt.
Um in Handkes Manier zu reden: Und siehe, der Frau, die den Rachezorn auf sich gezogen hatte, wird schließlich schlichtweg kein Platz in der Geschichte gewährt: „Und das war meine Rache. Das war und ist Rache genug.“ Und auch das besagte Schwert war keineswegs aus Stahl, denn es war ja „das zweite Schwert“, jenes ganz andere…
Peter Handke: „Das zweite Schwert. Eine Maigeschichte“. Suhrkamp Verlag, 160 Seiten. 20 €.