„Sunset Park“ – Paul Austers Krisenbewältigungsroman

Die Welt ist ein Gemenge aus wüsten Kräften, welche wir nicht beherrschen können: „Wieder einmal sind also die Würfel gerollt, wieder einmal wurde ein Los aus der schwarzen Eisentrommel gezogen, noch so ein Zufall in einer Welt voller Zufälle und unaufhörlichem Chaos.“

Das Zitat von Seite 59 darf als eine Kernaussage von Paul Austers neuem Roman „Sunset Park“ gelten. Niemand hat hier sein Leben in der Hand, durch- und aushalten heißt allenfalls die Devise, vom „Ankommen“ darf man wohl nicht einmal träumen. Zumal in der Wirtschaftskrise sind die Menschen nur Spielbälle. Doch Auster schickt sich an, Möglichkeiten des Glücks im offenbar unvermeidlichen Chaos zu erkunden. Wo lassen sich noch Reservoire und Ressourcen der Hoffnung finden?

Auster schildert die Verwerfungen vornehmlich aus Sicht von Miles Heller (28), der den College-Besuch abgebrochen hat und sich bei Haushaltauflösungen im Zuge der Immobilienkrise mit dem Fotografieren aufgegebener Dinge befasst, bevor die robusteren Kollegen das Zeug kurzerhand mitgehen lassen. Er betrachtet also tagtäglich Relikte gescheiterter Lebensentwürfe. Miles selbst lebt ohne jede Gier und ohne jeden Plan – eine der Haltungen, um in schlechten Zeiten einigermaßen durchzukommen. Der Spross einer desolaten Verlegerfamilie hat vor Zeiten bei einer Rauferei unwillentlich seinen Bruder vor ein Auto gestoßen – mit tödlicher Folge. Auch er selbst schien innerlich abgestorben zu sein, bis ihn die blutjunge Latina Pilar gleichsam ins Leben zurückgeholt hat. Freilich leben die beiden unter ständiger Bedrohung, bei den Behörden angeschwärzt zu werden, denn das Mädchen ist noch minderjährig.

Miles Heller flüchtet deshalb einstweilen von Florida nach New York, wo sich sein Lebensweg mit denen von Alice Bergstrom, Ellen Brice und Bing Nathan lose verknüpft. Sie alle haben keine oder keine einträglichen Jobs und besetzen aus schierem Geldmangel in Sunset Park (Brooklyn) ein heruntergekommenes Haus.

Wie beschädigt diese Biographien schon in frühen Jahren sind! Was sich da an Einsamkeit, Verschrobenheit und Entfremdung angesammelt hat! Wie mühselig sie ihre verkorksten Lebensläufe zusammenzuhalten und ein wenig zu „heilen“ suchen! Immerhin: Ellen findet Glücksversprechen in der geradezu verbissen ausgeübten Malerei, Alice als freie Mitarbeiterin des P.E.N. im Einsatz für verfolgte Autoren. Bing betreibt unterdessen eine „Klinik für kaputte Dinge“, also einen Reparaturbetrieb. Auster signalisiert, zuweilen fast schon penetrant: Man muss etwas tun! Und ohne Schmerzen ist erwachsenes Leben sowieso nicht zu haben.

Über weite Strecken haben wir anfangs einen Roman übers Nichtgeschehene gelesen, über verpasste Gelegenheiten; übers ziellose Begehren, das (nicht nur) zwischen den Figuren hin und her zu irren scheint, doch zumeist ins Leere läuft. Auch scheint da eine prinzipielle, existenzielle Seltsamkeit des Lebendigseins auf.

Weitere zentrale Gestalt des Krisen- und Krisenbewältigungsromans ist Miles’ Vater Morris Heller, dessen Verlag ins Schlingern geraten ist. Seitenblicke lassen ahnen, wie diverse Autoren des Hauses zwar künstlerisch reüssiert, aber gleichfalls ihr Leben verpfuscht haben. Morris selbst ist heillos geschieden und spioniert seit Jahren seinem Sohn nach, der sich von ihm losgesagt hat. Nun aber kommt es zum quälend hoffnungsvollen Wiedersehen. Ein Licht am Ende des Tunnels?

Konstellation und Konstruktion sind keineswegs frei von Klischees und Rührsamkeit. Wie schon in so vielen US-Filmen und Büchern, müssen Erzählungen über Baseball-Legenden einmal mehr als Leitsterne für gelingende oder als gültige Bilder fürs scheiternde Leben herhalten. Kaum denkbar, dass Fußball in der europäischen Literatur eine vergleichbar konstitutive Rolle spielte – aller „Ersatzreligion“ zum Trotz. Andere Fixpunkte, an denen man sich offenbar aufrichten soll, sind quasi mythische Momente der US-amerikanischen Geschichte und William Wylers Film „Unsere besten Jahre“ (1946). Dieses Kriegheimkehrer-Drama haben alle Figuren des Romans je auf ihre Weise gesehen, es ist wie ein Brennglas, das alle vereinzelten Schicksale in einem Punkte bündelt und kenntlich macht.

Auf Dauer ermüden die ständigen, eher additiven denn verdichtenden Perspektivwechsel zwischen den einzelnen Personen. Das ändert sich – als sei’s eine gewaltsame Katharsis – mit der brutalen polizeilichen Räumung des besetzten Hauses, in deren chaotischem Verlauf Miles einem Cop einen Kinnhaken verpasst und flüchtet. Doch sein Imperativ lautet: Stelle dich! Stehe für deine Taten ein!

Was bleibt ihm, abseits von Schuld und Sühne, jenseits von Glaube, Liebe und Hoffnung, noch übrig? Die Schlusssätze lassen es wolkig ahnen: „…nur noch für das Jetzt leben, für diesen Augenblick, diesen flüchtigen Augenblick, das Jetzt, das hier ist und dann nicht mehr hier ist, das Jetzt, das für immer verschwunden ist.“

Carpe diem also, im Bewusstsein des Verglühens. Womöglich ein stets angebrachtes, ja geradezu ein Allerwelts-Lebensmuster, nicht nur für Krisenzeiten.

Paul Auster: „Sunset Park“. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag. 315 Seiten. 19,95 Euro.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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1 Antwort zu „Sunset Park“ – Paul Austers Krisenbewältigungsroman

  1. reimeschmiedin sagt:

    Ganz flott geschrieben, diese Rezension. Und sehr eigenwillig interpretiert,jedoch auch manchmal falsch. Das Leben der meisten Protagonisten ist ziemlich ungeordnet. Auch wenn man selber vielleicht in stabileren und übersichtlicheren Verhältnissen lebt, muss man akzeptieren, dass das nicht bei allen so ist. Paul Auster schreibt von Amerikanern, die an den Rand der Gesellschaft gerutscht sind und versuchen, sich über Wasser zu halten, auf oft sehr originelle Weise.
    Das Baseball kommt zu oft vor, will aber vielleicht nur zeigen, dass die meisten Amerikaner halt mehr an Sport als an Büchern interessiert sind.
    Ja und desolate Familienverhältnisse und gescheiterte Lebensentwürfe gibt es wohl in Europa auch genug.

    Und dass ohne zeitweilige Schmerzen das Leben einseitig und nicht komplett ist, leuchtet ein.

    Dass die Gesetzgebung in den USA so hart, weltfremd und scheinheilig ist (Sex mit Minderjährigen unter 18 verboten)
    und dass man sich nach einer einmaligen Dummheit nicht aus der Schlinge ziehen kann (Kinnhaken gegen Polizisten!) macht betroffen.

    Das Ende bleibt offen. Es ist jedoch zu hoffen, dass Miles die Hilfe seines Vaters annimmt und nicht ins Gefängnis kommt, seinen Uni-Abschluss fertig machtund mit Pilar eine
    Familie gründet.

    Das Leben bleibt und ist auf alle Fälle u n b e r e c h e n b a r. Das ist ja das Spannende.

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