„Der Augentäuscher“: Ist die Fotografie eine Erfindung aus der Barockzeit?

Ein arbeitsloser Kunsthistoriker ist auf der Suche nach dem ganz großen Coup. Wäre es nicht eine Sensation, wenn er Bilder von Silvius Schwarz auftreiben und beweisen könnte, dass der Künstler tatsächlich gelebt hat?

Denn hartnäckig hält sich das Gerücht, dieser Silvius Schwarz hätte im Dresden des 17. Jahrhunderts ein ausschweifendes Leben geführt und mit seinen Werken die Kunst revolutioniert. Manche meinen, er habe nicht nur Stillleben gemalt, sondern optische Apparate gebaut und mit fotografischen Visionen experimentiert.

Einer anderen Legende zufolge ist Silvius Schwarz ein Magier und Gotteslästerer gewesen, der in blutige Ritualmorde verwickelt war. Doch leider existiert kein einziges Dokument, das diese Legenden mit Leben füllen könnte. Bis zum großen Elbhochwasser im Jahr 2002. Da fischt der brotlose Mythenjäger aus dem Brackwasser der Elbe ein paar durchgeweichte und verklebte Papiere. In ihnen berichtet der stumme Setzer Leopold vom Leben und Sterben seines Freundes Silvius Schwarz. Doch das ist nur ein Baustein in der Beweiskette, die der kunsthistorische Luftikus plötzlich in den Händen hält. Der Zufall spielt ihm nicht nur weitere Papiere des Bleisetzers zu, sondern auch einen verschollen geglaubten Briefroman, in dem die Mathematikerin und Gambenvirtuosin Sophie von Schlosser von ihrer Liebesaffäre mit Silvius Schwarz berichtet.

Und dann ist da noch diese geheimnisvolle Metallplatte, die der Legendensammler bei einem Dresdner Antiquar findet: Zeigt die dunkel angelaufene Metallplatte, in die die Jahreszahl 1673 eingeritzt ist, nicht die Reste eines Fotos? Doch wie kann das sein, wurde die Fotografie doch angeblich erst im 19. Jahrhundert erfunden?

In seinem Roman „Der Augentäuscher“ treibt Mathias Gatza ein furioses Spiel mit kunsthistorischen Visionen, mörderischen Fantasien und schriftstellerischen Finten. Wer Umberto Ecos „Der Name der Rose“ liebt, wird auch den ebenso brillant konstruierten und elegant erzählten „Augentäuscher“ goutieren.

Gatza, 1963 in Berlin geboren, versteht etwas vom Bücherhandwerk. Er hat bei Wagenbach als Volontär und bei Suhrkamp und im Berlin Verlag als Lektor gearbeitet. Bevor er selbst zum Autor wurde, hat er sich als Verleger zeitgenössischer Literatur versucht. Nachdem er mit „Der Schatten der Tiere“ ein gelungenes Debüt feierte, zieht er nun im „Augentäuscher“ alle literarischen Register. Gatza fungiert als Herausgeber fingierter Dokumente. Zwischen dem aufgedrehten Wissenschaftsbetrieb der Gegenwart und dem barocken Leben des 17. Jahrhunderts pendelt er aberwitzig hin und her und nimmt den Leser mit auf eine literarische Abenteuerreise.

Ob er sich als kunsthistorischer Lügner und Betrüger, als Setzer Leopold oder als frühemanzipierte Sophie von Schlosser verkleidet: für alle Figuren und Erzähler findet Gatza einen eigenen Ton. Außerdem weiß er alles über Malerei und Sehgewohnheiten, gefälschte Dokumente und spannende Krimis, ironisches Flunkern und satirische Verballhornung historischer Romane und wissenschaftlicher Sensationslust. Atemlos folgt man den Berichten über dieses von seinem hilflosen Vater in den Schnee geworfene Baby, das von einem in Dresden lebenden Muslim aufgelesen und erzogen wurde und aus dem später der Kunstrebell Silvius Schwarz werden sollte. Wir trauen diesem gegen Neid und Missgunst kämpfenden und nach absoluter Erkenntnis strebenden Künstler alles zu. Aber sollte er wirklich, nur weil die Umkehrung des Bildes ein Prinzip der Fotografie ist, zum teuflischen Mörder geworden sein, der 13 Kastraten des Dresdner Opernhauses kreuzigt, verstümmelt und auf den Kopf stellt?

Mathias Gatza: „Der Augentäuscher“. Roman. Graf Verlag, München 2012, 383 S., 19,99 Euro.

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