Kunst schlägt Couture: Das Concertgebouworkest Amsterdam beginnt Residence in der Philharmonie Essen

Martin Fröst (Klarinette), Alain Altinoglu (Dirigent) und das Concertgebouworkest in der Philharmonie Essen. (Foto: Sven Lorenz/TuP)

Wir kennen das noch aus so mancher Altherrenkritik: Wenn Damen aufs Podium traten, war die Garderobe mindestens so rezensabel wie die künstlerische Leistung. Das war manchmal eine hinterlistige Methode der indirekten Kritik, oft aber bloß purer Ausdruck von Sexismus.

Der genugtuenden Gerechtigkeit halber sei’s gesagt: Der Anzug des Klarinettisten Martin Fröst mit seinen weiß konturierten Kanten war so stylish, dass er eine Erwähnung wert ist.

Doch auch in diesem Fall muss die Couture hinter die Kunst zurücktreten: So viel spielerische Souveränität auf der Klarinette soll jemand erst einmal nachmachen! Was Fröst wie selbstverständlich aus seinem Instrument in den seltsam lückenhaft besetzten Saal der Essener Philharmonie entlässt, ruft in jedem Moment Staunen hervor, begeistert in den perfekt tragenden Piano-Nuancen ebenso wie in der kristallinen Artikulation und der atemberaubenden Behendigkeit. Das „Dance Mosaic“, das er zusammen mit seinem Bruder Göran zusammengestellt hatte, ist Virtuosenmusik vom Feinsten: Sie befriedigt die unbändige Lust an der Show, geht jedoch auch in die Tiefe – mit Bearbeitungen von Brahms- und Bartók-Originalen, mit Zeitgenössischem von Anders Hillborg und einem Klezmer-Tanz von Göran Fröst. Pure Lust, purer Genuss, und das für Ohr und Geist!

Martin Fröst ist Artist in Residence des Concertgebouworkest und also solcher Gast beim opulenten Sinfoniekonzert, mit dem das traditionsreiche Amsterdamer Orchester seine Residenz in der Philharmonie Essen begonnen hat. Fünf Konzerte folgen noch, davon drei in kammermusikalischen Formationen: Schon am Samstag, 1. Oktober, präsentieren sich die Bläser des Orchester unter dem Namen „RCO Brass“ mit einem bunten Programm von Alexander Borodin bis Jean-Philippe Rameau. Im nächsten Orchesterkonzert am 27. Januar 2023 dirigiert John Eliot Gardiner die Brahms-Sinfonie Nr. 4 und das Zweite Klavierkonzert mit Stephen Hough als Solisten.

Víkingur Ólafsson. (Foto: Sven Lorenz/TuP)

Diesmal war ein anderer Pianist am Zug: Víkingur Ólafsson stellte sich als Porträtkünstler der Philharmonie mit Edvard Griegs a-Moll-Klavierkonzert vor. Auch er wird mehrere Male verschiedene Facetten seiner Meisterschaft vorführen, demnächst schon, am 26. Oktober, mit dem – Griegs Konzert eng verwandten – a-Moll-Konzert von Robert Schumann mit der Tschechischen Philharmonie unter Semyon Bychkov. Dass der Isländer nicht nur am Flügel beredt zu parlieren weiß, bewies er nach dem Konzert im RWE-Pavillon mit einer geistvollen Stunde rund ums Klavier.

Melancholie und Entschiedenheit

Òlafssons Grieg verliert sich nicht in Romantizismus oder Schwärmerei, huldigt auch nicht dem bloß Lyrischen. Schon die Dreiklänge des Beginns setzen eine entschiedene Geste, aber wenn das Klavier das zweite Thema des Orchesters wiederholt, kommt Ólafsson ins Nachsinnen, spielt mit gelösten Akkordbrechungen, als wandle er absichtslos auf herbstlich beleuchteten Pfaden. Seine Melancholie wird nicht bitter; das Orchester antwortet leidenschaftlich, aber nicht laut – Alain Altinoglu hat in jedem Moment, auch im kraftvollen Finale die Zügel in der Hand. Wenn der Pianist schließlich das Thema in der Reprise formuliert, wählt er ein ruhiges Tempo, aber einen klar fokussierten Anschlag. Im zweiten Satz gelingt Ólafsson mit seinem Gespür für den richtigen Puls der Zeit ein glücklicher Moment ruhevoller Gelöstheit; aber auch hier hütet er sich durch seinen markanten Anschlag vor Sentiment. Der dritte Satz reizt zwischen Härte und Delikatesse alle expressiven Möglichkeiten aus.

Verdienter Beifall für Víkingur Ólafsson, Alain Altinoglu und das Amsterdamer Concertgebouworkest. Foto: Sven Lorenz/TuP

Im Orchester zeigen die samtgoldenen Streicher, dass sie auf dem Weg sind, ihre einzigartige Spielkultur wiederzugewinnen. Auch die sorgsam abgestimmte Streicher-Bläser-Balance und die Aufmerksamkeit der Hörner etwa im zweiten Satz sorgen für magische Momente. Dass zu dieser Palette auch eine gehörige Portion Artistik gehört, lässt sich das Concertgebouw nicht zwei Mal signalisieren: Der rasante Einstieg mit John Adams „Short ride in a fast machine“ zeugt davon ebenso wie die saftigen Rhythmen in Leonard Bernsteins beifallssicheren Tänzen aus der „West Side Story“. Ein fulminanter Einstieg in die Saison – so darf es gerne weitergehen.

Info: https://www.theater-essen.de/philharmonie/

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Über Werner Häußner

Redakteur, Musikkritiker, schreibt u.a. für WAZ (Essen), Die Tagespost (Würzburg), Der Neue Merker (Wien) und das Online-Magazin www.kunstmarkt.com.
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