
Familienaufstellung mit Benjamin Lillie (links, von hinten), Maja Beckmann (Mitte) und Wiebke Mollenhauer (Foto: Diana Pfammatter/Schauspielhaus Bochum)
Es war dann doch gut, nicht in der Pause gegangen zu sein. Wenn der Rest des Abends in der Pause absehbar gewesen wäre – und bei einer angekündigten „Familientrilogie“ konnte man ja fast davon ausgehen – hätte man sich den Rest möglicherweise schenken können. Aber diese Inszenierung, und das ist wirklich ein Alleinstellungsmerkmal, schafft es bis zur Pause, mit einem einzigen Darsteller auf der Bühne auszukommen.
Keine Maja Beckmann, keine Ulrike Krumbiegel; der Rezensent gibt gerne zu, daß er vor allem wegen den beiden großartigen Schauspielerinnen ins Bochumer Schauspiel gekommen war. Nun denn: Der (im Stück namenlos bleibende) Hauptdarsteller heißt im wirklichen Leben Benjamin Lillie, das Stück „Einfach das Ende der Welt“. Inszeniert hat es am Züricher Schauspielhaus Christopher Rüping, die Vorlage stammt von Jean-Luc Lagarce. Ein Gastspiel mithin; laut Programmheft zudem die erste Folge einer auf drei Teile angelegten Familiengeschichte.
Solo für Benjamin Lillie
Erste Hälfte dieses Abends, wie gesagt, ein Solo für Lillie. Er führt sich ein als Vollgas-Entertainer, Einpeitscher, wild gewordener Bühnen-Rocker mit der rasenden schwerelosen Körperhaftigkeit eines Mick Jagger, als der so alt war wie Lillie jetzt, Mitte dreißig. Fast könnte man meinen, er hätte was genommen, wäre sein Auftritt nicht so präzise durchchoreographiert.
Superstory
Nein, der Held ist nicht auf Droge, er huldigt lediglich seinem Ego. Nach 12 Jahren, irgendwann ist es bei all der Bühnenzappelei dann endlich raus, ist er zurückgekehrt ins Elternhaus, das er nie wieder betreten wollte. Das ist die Superstory, die er dem Publikum auftischt. Und für die er doch – welche Frage! – gefeiert werden muß. Das überaus kooperative Bochumer Publikum muß es im Chor mehrmals aufsagen, daß er nach 12 Jahren zurückgekehrt ist, dreistimmig, ein bißchen so wie „Der Hahn ist tot“.

Benjamin Lillie in Aktion. Im Video Nils Kahnwald als sein Bruder, mit Perücke (Foto: Diana Pfammatter/Schauspielhaus Bochum)
Schlechte Nachricht
Doch ach. Dieser Regisseur der Massen und der Emotionen hat auch eine üble Nachricht im Gepäck. Die größere Regie auf Erden, wenn man einmal so sagen darf, hat beschieden, daß er bald sterben muß. Warum wieso, woran, das bleibt unklar. Ist ja auch egal. Jedenfalls haben wir nach einer Menge Ego-Show den Plot einigermaßen zusammen: Strahlender Held (außerdem Künstler und schwul) kommt zum Sterben nach Hause. Irgendwie auch klassisch, oder? Einige Minuten filmt er dann noch Erinnerungsstücke seiner Jugend mit der Videokamera ab, die die Inszenierung in reicher Zahl in das Bühnenbild von Jonathan Mertz gefügt hat. Überhaupt, die Videokamera: Alles und jedes wird gefilmt, nachher auch die Familienmitglieder, nervig, nervig. Doch erstmal ist jetzt Pause, weil, wie der Protagonist uns mitteilt, das Bühnenbild ab- bzw. ungebaut (eigentlich großenteils auch nur umgedreht) werden muß.
Ein fast schon naturalistisches Bühnenspiel
Der Pause folgt, wer hätte das gedacht, vergleichsweise naturalistisches Bühnenspiel mit richtigen Bühnencharakteren. Nils Kahnwald ist der mäßig erfolgreiche Bruder des Heimkehrers, Maja Beckmann seine Frau. (Sie haben zwei Kinder, die aber nicht mitgekommen sind.) Aus der kleinen Schwester (Wiebke Mollenhauer) ist eine nette junge Frau geworden, Ulrike Krumbiegel – zu laut, zu grell und dem Schampus nicht abgeneigt – die Mutter der Familie. Einen Vater gibt es nicht (mehr). Sechster Mitwirkender ist Matze Prölloch, nicht als Familienmitglied, sondern als eine Art Faktotum, als Drummer (vor der Pause), als schwuler Lebensgefährte, als personalisierte Erinnerung etc.

Schwester und Bruder, Wiebke Mollenhauer und Benjamin Lillie (Foto: Diana Pfammatter/Schauspielhaus Bochum)
Kein Interesse
Diese überaus gewöhnliche Familie hat mit Rock’n’roll nichts am Hut und würde weiterhin auch gut ohne ihren grandiosen Frühaussteiger auskommen; wenn er aber unbedingt Kontakt haben will, soll er sich gefälligst auch für die anderen interessieren, was er zunächst nicht begreift und anschließend nicht hinbekommt. Und so weiter.
In unterschiedlichen Härtegraden, viel zu oft mit lästigem Videokameraeinsatz, mit wechselnder Lautstärke, farbigen Scheinwerfern u.ä. aufgebauscht, wird aneinander vorbeigeredet. Erst gegen Ende des Stücks streiten sich die beiden Brüder mal richtig persönlich, beklagt der Held das fehlende Verständnis für ihn, den Heranwachsenden, der seine Homosexualität durch schmerzlich imitierte Männlichkeit zu unterdrücken trachtete. Und dann ist Schluß. Ob noch mehr daraus wird? Wer weiß, das alles ist ja, wie gesagt, auf Dreiteiler angelegt.

Es knutschen (von links) Matze Pröllochs und Benjamin Lillie (Foto: Diana Pfammatter/Schauspielhaus Bochum)
Kein Drama
Man wird gut unterhalten von dieser Produktion des Schauspielhauses Zürich (übrigens und erstaun-licherweise eine Aktiengesellschaft, wie dem nett gemachten Booklet zu entnehmen ist). Doch Veränderung, Wandel in den Charakteren, dramatische Fallhöhe mithin, sind nicht zu erkennen. Die Inszenierung scheint sich dafür auch nicht interessiert zu haben. Ihre Methode erschöpft sich im Zitieren letztlich grauer, unspektakulärer biographischer Gegebenheiten, wie es derzeit Mode ist auf den Theatern und deren erfolgreichste Vertreterin wohl Annie Ernaux ist. Ihr Stück „Der Platz“ stand in Dortmund auf dem Spielplan, und selbstverständlich fehlt sie nicht bei den „Literaturempfehlungen“ des Programmhefts – neben Didier Eribon, Fassbinder, Bernhard, Schleef und anderen. Wenn graue Stoffe aber so grell wie hier inszeniert werden, mag man das als Widerspruch betrachten. Vermutlich hat es einen Hintersinn, dem nachspüren mag, wer will.
Schönes Wiedersehen
Schön war, wie erhofft, die Begegnung mit Maja Beckmann, die die biedere, aber auch selbstbewußte Hausfrau und Mutter mit jenen typischen kleinen Beimengungen von kindlicher Ernsthaftigkeit, Unsicherheit und Komik zu geben weiß, wie es so keine andere kann. Viele kennen sie noch aus ihrer Bochumer Zeit, aus „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“ zum Beispiel. Seit Jahren ist sie nun schon Ensemblemitglied in Zürich. Ihre Welt ist ganz vorwiegend das Theater, doch gerne würde man sie ebenso wie die etwas bekanntere Schwester Lina Beckmann auch wieder mal im Fernsehen sehen.
Bestes Theater?
Froh, die zweite Hälfte nicht verpaßt zu haben, begibt man sich auf den Heimweg. Langweilig war es ja nicht. Wenn allerdings, wie geschehen, eine Theaterzeitschrift „Einfach das Ende der Welt“ zur „Inszenierung des Jahres 2021“ erkoren hat, wirkt das doch befremdlich. Die große deutsche Theaterlandschaft, auf die wir doch so unverschämt stolz sind, soll nicht mehr zu bieten haben als diese dünne Geschichte? Man sollte nicht zu viel auf das Urteil anderer Leute geben. Und lieber selber ins Theater gehen.
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