Empathiemangel in Zeiten der Cholera – Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“ in Bochum

Szene mit (v.l.) Amelie Willberg, Anne Rietmeijer, Guy Clemens, Dominik Dos-Reis, Victor Ijdens (Foto: Matthias Horn/Schauspielhaus Bochum)

Sie kommen einem alle so bekannt vor, der Weltverbesserer, der liebestolle Tierarzt, der prügelnde Trinker, die enttäuschte Gattin, das aufsässige Dienstmädchen und all die anderen. Mag sich die bürgerliche Gesellschaft im alten Rußland auch im Niedergang befinden, ihre Vertreter wußten auf der Bühne, in ungezählten Inszenierungen vergangener Jahrzehnte, zuverlässig zu begeistern. Jedenfalls in den Stücken von, beispielsweise, Maxim Gorki, „Die Kleinbürger“, „Nachtasyl“, „Die Sommergäste“.

Starke Charaktere sind sie, getrieben ebenso wie reflektiert, auf tragische Weise unvollkommen. Jetzt gibt es in Bochum, in der Regie von Mateja Koležnik, Gorkis „Kinder der Sonne“ zu sehen. Und etwas irritiert fragt man sich, was aus den Helden von einst geworden ist.

Anna Blomeier (Foto: Matthias Horn/Schauspielhaus Bochum)

Wie von Hopper gemalt

Auf eigentümliche Weise wirken die Auftritte der Figuren wie Soli, sogar dann noch, wenn sie miteinander reden. Sie tun dies eher leise, trotz elektronischer Verstärkung. Schon in den vorderen Reihen gibt es manchmal Verständnisschwierigkeiten. Aber wahrscheinlich ist das Absicht, ebenso wie die Körperpositionen der Schauspieler und Schauspielerinnen, die sehr dazu neigen, sich voneinander abzuwenden. Die (Bühnen-) bilder, die so entstehen, wirken wie von Edward Hopper gemalt, dem großen amerikanischen Maler der Beziehungslosigkeit. Farbigkeiten und Proportionen des Bühnenbildes (Raimund Orfeo Voigt), Dekorelemente und Möbel könnten ebenso von Hopper sein, und auch der wenig ansprechende Swing-Titel, der in der ersten Szene schon aus der Musiktruhe erklingt, paßt dazu.

Im Lauf der Inszenierung verfestigt sich der Eindruck: Diese ja eigentlich privilegierte Gesellschaft, diese „Kinder der Sonne“ eben, die sich in existenzbedrohlichen Zeiten der Cholera so ganz ihren Beziehungsproblemen hingeben, sind in Koležniks Bochumer Inszenierung eine Ansammlung von Autisten, denen lediglich ihre Unfähigkeit zur Empathie gemein ist.

Keine beglückenden Lösungen

Da man heutzutage auf der Bühne mit den Stoffen ja fast alles machen darf, ist die Frage nach der Zulässigkeit einer solchen Zeichnung müßig. Zu fragen wäre aber, ob es Sinn hat, Gorkis doch oft recht pralle Bühnengestalten aus Fleisch und Blut, wenn man einmal so sagen darf, durch gewollt flach agierende Statthalter zu ersetzen. Zumindest spricht für die nun in Bochum zu erfahrende Ausdeutung, daß die Resultate eigentlich die selben sind. Kraftvolle Charaktere gelangen bei Gorki ebenso wenig zu beglückenden Lösungen wie in Bochum die einsamen Autisten. Ob es fast zwei Stunden dauern muß, um diesen Aspekt so herauszuarbeiten, sei dahingestellt.

Szene mit (v.l.) Emily Lück, Anne Rietmeijer, Guy Clemens (Foto: Matthias Horn/Schauspielhaus Bochum)

Einige Lacher

An Andeutungen, daß hier durchaus Schauspiel-Künstler auf der Bühne agieren, mangelt es nicht, doch legt ihnen der Inszenierungsstil Zurückhaltung auf. Lediglich Jele Brückner (jetzt wieder fest im Bochumer Ensemble), die als liebestolle Witwe Melanija die Frau des Chemikers Protassow zu überreden versucht, ihr ihren Mann zu überlassen, macht da eine unterhaltsame Ausnahme, die das Publikum mit dankbaren Lachern quittierte.

Volle Hütte

Nun denn. „Kinder Sonne“ ist in Bochum eine konzentrierte, gelassene, naturalistisch gehaltene Produktion, die alles in allem doch erfreulich respektvoll mit der Vorlage umgeht. Einem aufmerksamen Publikum weiß sie die dem Stück innewohnenden Konfliktlinien sehr wohl nahezubringen, sicherlich auch gerade wegen ihres staubtrockenen Inszenierungsstils. Dankbarer und anhaltender Applaus. A propos: Die Vorstellung, wiewohl nicht Premiere, war sehr gut besucht. Man gewinnt den Eindruck, daß Bochum sein Publikum nach jahrelangen Corona-Einschränkungen wiedergewonnen hat.

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