Florian Werner knöpft sich die kulturgeschichtlichen Themen vor, wie sie ihm beikommen. Zuletzt hatte er sich mit allerlei Fährnissen rund um die Raststätte befasst, es wurde an dieser Stelle gewürdigt. Nun ist ein ganz spezieller Körperteil an der Reihe: die Zunge, also das eigenwillig schlüpfrige Ding in der Mundhöhle, das manchmal so keck hervorkommt.
Schnell wird klar, wie fleißig der Autor Materialien gesammelt hat. Nahezu jede denkbare (zumindest deutschsprachige) Redensart mit Zungenbezug wird zitiert und aufs pralle Leben bezogen. Da kommt einiges zusammen. Derlei Bücher tendieren überhaupt dazu, die ganze Welt auf ihr Thema zu fokussieren. Dem Zungen-Autor ist irgendwann alles Zunge. Und so heißt es auch hier: bloß nichts vergessen, bloß nichts auslassen, keinen Gag verschenken. So wird die Phänomenologie der Zunge um und um gewendet. Beim Ameisenbär ist sie übrigens rund 60 Zentimeter lang, die Giraffe bringt’s auf 50 Zentimeter. Nur mal fürs Protokoll.
Provokation und Sexualität
Was kann die Zunge nicht alles sein und vollführen – von frühauf: gemeinsam mit den Lippen an der Mutterbrust saugen. Aber sie ist auch körperpolitisch aktiv. Vor allem seit den 1960er Jahren gerät sie zum immer offensiveren Zeichen der Provokation, sofern frech rausgestreckt (man denke ans berühmte Stones-Cover und dergleichen Ikonen); ein höchst bewegliches Organ, schleimig und zuweilen etwas eklig. Sodann die sexuelle Konnotation beim Lecken und Gelecktwerden. Mit den Geschlechtsteilen hört die Leckerei ja noch lange nicht auf, das weite Feld wird von A bis Z (Klartext: Arschlecken bis Zungenkuss) durchbuchstabiert. Feinsinnige Unterscheidung: Kommt die Zunge aus dem Mund und wölbt sich nach oben, so darf die Mimik als lasziv gelten (das walte Mick Jagger), richtet sie sich nach unten, so wird es schnell beleidigend. Bäh!
Beileibe nicht jedes Lecken ist erotisch, es kommt auch in biederen Bereichen vor. Vordem wurden zumeist auch Briefmarken rückseitig geleckt, heute gibt’s überwiegend selbstklebende Postwertzeichen. Da deutet sich wohl ein Wandel zu mehr Sterilität und Hygiene an. Auch so eine Zeitsignatur.
Belege quer durch die Kulturgeschichte
Sodann die Feinheiten der Geschmackswahrnehmung (Nebenaspekt: Abwertung des Süßen, nicht erst seit Özdemir und Lauterbach) und der Sprachlichkeit, deren Artikulation wesentlich von der Zunge erzeugt wird – bis hin zum Lispeln und Lallen. Linguistik kommt vom romanischen Wortstamm für Zunge. Schließlich der verzückt-religiöse und esoterische Aspekt („In Zungen reden“), Teufel und Schlange mit ihren gespaltenen Zungen. Kurzum: Man denke sich irgend etwas Zungenhaftes aus, es wird mit ziemlicher Sicherheit in diesem Buch auftauchen.
Von biblischen und antiken Mythen über die Philosophie (Kant etc.) bis zu Kunst, Kino und Pop-Videos reicht das Spektrum der Beleg- und Beleck-Stücke. Haha, auf diesen halbgaren Gag mochte ich jetzt auch nicht verzichten. Die jeweilige Deutung bewerkstelligt Florian Werner vielfach inspiriert, zumindest aber mit Geschick und Routine. Er hat den nötigen Horizont. Dennoch erschöpft sich das Repertoire irgendwann. Das Buch hätte nicht viel umfangreicher werden sollen.
Als Agassi Boris Beckers Gedanken las
Der Verfasser bringt unterwegs einige hübsche Anekdoten unter, so auch jene, nach der der US-Tennisstar (und nachmalige Ehemann von Steffi Graf) Andre Agassi häufig gegen Boris Becker gewinnen konnte, weil er geahnt hat, wohin Boris schlagen würde. Warum? Weil er Beckers Zunge beobachtete. Sie zeigte die Richtung des Balles vorab an. Agassi konnte sich das Grinsen kaum verkneifen, als er belauschte, wie Becker nebenan der Weltpresse sagte, dieser amerikanische Gegner könne wohl seine Gedanken lesen…
Gegen Ende die multiple Horrorvorstellung: Variationen auf abgeschnittene Zungen. Abgründe brutaler Herrschaftsausübung, vor allem in kolonialistischen Zusammenhängen oder im schwerkriminellen Milieu. Da geht’s beispielsweise um die „Kolumbianische Krawatte“ (die ich hier nicht näher erläutern mag) sowie einschlägige Fundstellen von Ovid über Shakespeare und Houellebecq bis hin zur Netflix-Serie „Breaking Bad“. Am Ende glimmt, trotz viehischer Gewalttaten, so etwas wie vage Hoffnung auf. Werden auch einzelne Zungen verletzt und zerfetzt, so werden sie niemals alle zum Schweigen gebracht.
Florian Werner: „Die Zunge. Ein Portrait“. Hanser Berlin, 216 Seiten, 24 Euro.