
Florian Helgath leitet das Chorwerk Ruhr bei dem Konzert mit dem Titel „Rechants“ bei der Ruhrtriennale in Bochum. (Foto: Christian Palm)
Das wurde aber auch Zeit. Nachdem das Chorwerk Ruhr in der Triennale-Produktion „Abendzauber“ lediglich Teil einer Installation war, eines Happenings, das Stücke von Bruckner und Björk auf die Rolle eines Soundtracks reduzierte, durfte das weithin gerühmte Vokalensemble nun ein echtes Konzert geben. In der Turbinenhalle an der Jahrhunderthalle Bochum gab es tatsächlich „nur Musik“ (um den ebenso erstaunten wie unerfahrenen Konzertbesucher aus Loriots berühmtem Sketch zu zitieren).
Warum das aktuelle Programm des Chorwerks „Rechants“ heißt und was es mit dem gleichnamigen Werk von Olivier Messiaen auf sich hat, darf das zahlende Publikum selbst herausfinden. Kein Wort dazu in dem bedruckten Faltblatt, das gratis ausgehändigt wird. Hätte Florian Helgath, der langjährige Leiter des Chorwerks, dem Dramaturgie-Team des Festivals nicht ein erhellendes Interview gegeben, wären die Besucher den hoch komplexen Kompositionen ohne jeden Beistand begegnet.
Das Wechselspiel von Strophe und Refrain ist gemeint, wenn der 1992 verstorbene Franzose sein im Dezember 1948 vollendetes Vokalwerk „Cinq rechants“ nennt. Er spielt damit auf ein Werk des Renaissancekomponisten Claude Le Jeune an und setzt sich zugleich mit dem Tristan-Stoff auseinander, gewissermaßen im Nachklang seiner großen Turangalîla-Sinfonie, die als eines seiner Hauptwerke für Orchester gilt.

Kristalline Reinheit: Das Chorwerk Ruhr singt eine Motette des erst kürzlich wiederentdeckten portugiesischen Renaissance-Komponisten Vicente Lusitano. (Foto: Christian Palm)
Um Liebeslieder handelt es sich bei den „Rechants“ nach Messiaens eigener Aussage. Zwölf solistische Stimmen braucht es für die fünf Gesänge, die indes nicht unmittelbar poetisch wirken, sondern gewissermaßen erst beim zweiten Hinhören, durch ihre vielfältig schillernde Farbigkeit. Im Vordergrund stehen rhythmisch markante Lautmalereien. Messiaen hat zusätzlich zum französischen Grundtext ein eigenes Idiom geschaffen. Lautfolgen wie „suka rava kâli vâli“ oder „mano nadja lâma krîta makrîta“ wirken wie dadaistisches Sanskrit.
Um diesen Gipfel der Vokalkunst zu erklimmen, braucht es verteufelt trittsichere, gewissermaßen schwindelfreie Sängerinnen und Sänger. Das Chorwerk Ruhr besitzt sie: Unter der kompetenten Leitung von Florian Helgath und dem diskreten Einsatz ihrer Stimmgabeln wandeln sie scheinbar mühelos über alle Klippen der Harmonik (für die Experten: Es gibt Ganzton- und Tritonus-Parallelen!) sowie der Kontrapunktik.
Da werden Sechzehntelketten zu magischen Beschwörungsformeln (roma tama tama tama), Konsonantenfolgen (t – k – t – k – t) zu perkussiven Ereignissen. Jede Stimme fügt sich so passgenau ins große Ganze wie ein Steinchen in ein kunstvolles Mosaik. Es gibt bundesweit nicht viele Chöre, die das auf diesem Niveau hinbekommen.
Selbst für Florian Helgath war die Musik des Renaissance-Komponisten Vicente Lusitano, die nach 450 Jahren jetzt allmählich wieder dem Vergessen entrissen wird, eine Entdeckung. Der Portugiese gilt als der erste schwarze Komponist der europäischen Musikgeschichte, dessen Werke publiziert wurden. Seine Motette mit dem Titel „Inviolata, integra et casta es“, erschienen vermutlich um das Jahr 1519, huldigt der Reinheit und Keuschheit der Gottesmutter Maria.

Das Chorwerk Ruhr feierte in der Turbinenhalle bei der Ruhrtriennale einen großen Erfolg. (Foto: Christian Palm)
Das Chorwerk singt das geistliche Werk mit acht Frauen- und zehn Männerstimmen. Mit der linken Hand formt Florian Helgath die langen Linien des Gesangs, der jetzt den Raum flutet: ein pausenloses, herrlich rein intoniertes Strömen, in dem die sonoren Männer- die Frauenstimmen wie auf einem Tablett emportragen. Der Schlussakkord schwebt so körperlos im Raum, als wäre er nicht mehr von dieser Welt.
Zeitgenössisches gibt es zum Abschluss: Die „Partita für 8 Stimmen“ der 1982 geborenen Amerikanerin Caroline Shaw lotet die Möglichkeiten der menschlichen Stimme höchst effektvoll aus. Mit Einverständnis der Komponistin entschied Florian Helgath sich für eine Besetzung mit 18 Stimmen. Die funktioniert für das Chorwerk Ruhr perfekt: Die vier Sätze werden zu einer Abenteuerreise für die Ohren, die in immer neue Welten entführt. Da gibt es Kehlkopfgesänge, flötengleiche Obertöne, rituelle Chants und ein virtuoses Sprach-Fugato. Aus den Tiefen des Ozeans scheint ein wellenförmiges Glissando aufzusteigen, das der Chor mit geschlossenen Lippen auf dem Laut „Hmmmm“ formt: Es klingt, als höre man einem Buckelwal beim Schlucken zu.
Ein Extra-Zückerchen hat das Chorwerk Ruhr auch eingebaut: Der gesummte Mittelteil der Courante ist unschwer als das Steigerlied zu erkennen. Es mündet in ein rasantes Beatbox-Finale. „Was können die Sängerinnen und Sänger des Chorwerks eigentlich nicht?“, mag mancher sich am Ende perplex fragen. Nach diesem Abend steht zu vermuten: wahrscheinlich nichts.
(www.ruhrtriennale.de)