„Tannöd“: Plötzlich ein Bestseller

Fast schon märchenhaft: Eine bislang völlig unbekannte Autorin hat Anfang 2006 im Hamburger Kleinverlag Edition Nautilus ihr Romandebüt mit dem wenig aufregenden Titel „Tannöd” vorgelegt. Jetzt führt das Buch auf einmal die Bestsellerliste an. Woran liegt es?

Zunächst gab es im Januar für „Tannöd” den Deutschen Krimipreis. Das hat schon mal ein wenig geholfen. Viel wichtiger noch: Kurz darauf war am 19. Januar die Schauspielerin Monica Bleibtreu bei Elke Heidenreich („Lesen!” im ZDF) zu Gast. Just Bleibtreu war es, die den „Tannöd”-Text fürs Hörbuch gesprochen hat. Sie dürfte Elke Heidenreich bewogen haben, das Buch (und damit die CDs) zu empfehlen, was prompt geschah: „Fabelhaft! Ein unglaubliches Buch”, befand die Vorleserin der Nation.

Von Stund‘ an ging’s rasant bergauf. Jetzt hat der Krimi von Andrea Maria Schenkel sogar Daniel Kehlmanns Dauerbrenner „Die Vermessung der Welt” von Platz eins verdrängt. In Zahlen: 2006 wurden etwa 15 000 „Tannöd”-Exemplare verkauft, seit Januar sind laut Verlag bislang rund 85 000 hinzugekommen. Inzwischen ist die zehnte Auflage gedruckt.

Und was ist dran am Buch? Der Roman spielt Mitte der 1950er Jahre in einem entlegenen bayerischen Dorf. Inständige Stoßgebete zwischen den kurzen Kapiteln deuten darauf hin, dass etwas Schreckliches geschehen sein muss. Es hebt eine ganze Reihe von Zeugenaussagen an. Nach und nach entsteht das grausame Bild einer Bluttat auf dem Tannöd-Hof.

Vor allem aber gerät der Roman zur vielstimmigen sozialen Feldstudie mit regionalem Kolorit. Hofnachbarn, Lehrer, Postbeamter, Pfarrer, Bürgermeister und viele andere äußern sich – meist misstrauisch und wortkarg. Ihre kleine Welt ist ins Wanken geraten, man munkelt von Gier und Geiz, von Inzest und anderen schlimmen Verfehlungen.

Nach dem Mord sind sie alle wie gelähmt vor Entsetzen. Dass so etwas in ihrem Ort passieren konnte! Noch dazu mitten in der Wiederaufbauzeit, als man endlich seine Ruhe haben will. Diese Ruhe aber ist höchst trügerisch . . .

Das immer dichtere Bündel der Spuren führt schließlich nicht nur zum jetzigen Täter, sondern auch zurück in den Krieg, als „Fremdarbeiter” aus Polen und Frankreich hier gelitten haben. Es lastet eine Art Fluch auf dem Dorf. Der Fluch einer allgemeinen Schuld.

„Tannöd” ist kein gewöhnlicher Krimi. Ein erstaunlicher Erstling, zielstrebig und treffsicher erzählt. Doch es kommt nicht nur auf solche Qualitäten an. Ohne Elke Heidenreichs Fürsprache hätte das Buch wohl wenig Chancen gehabt. Solcher Einfluss macht schon beinahe Angst.

Andrea Maria Schenkel: „Tannöd”. Edition Nautilus. 125 Seiten, 12,90 Euro.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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