Kent Nagano und Kit Armstrong überraschen in Essen mit Berlioz und Liszt

Kent Nagano. Foto: Leda and St-Jacques/Sony Classical

Kent Nagano. Foto: Leda and St-Jacques/Sony Classical

Über dem Konzert stand nicht die glutvoll goldene Sonne Italiens, sondern das kühle blaue Licht des griechischen Gebirges. Kent Nagano und das Orchestre symphonique de Montréal durchleben in der Essener Philharmonie Hector Berlioz‘ „Symphonie fantastique“ nicht als fiebriges Passionsstück. Sie richten den Blick auf die Exaltationen, Leidenschaften und Schmerzen dieser ur-romantischen Komposition, als säßen sie auf den Rängen eines Amphitheaters, während unten eine Tragödie spielt. Eine erhabene Tragödie, kein heißblütiges Melodram.

Kent Nagano hat einen höchst präzisen, höchst reflektierten Zugang zu solchen Werken. Er ist kein „Bauch“-Musiker, der sich in die elegischen und grotesken, die hochfahrenden und depressiven Seiten hineinwirft, die Berlioz in fünf Sätzen aufblättert. Er betrachtet diese Seelen-Landschaft nicht, als habe sie Eugene Delacroix mit sattfarbigem Schwung auf die Leinwand geworfen, sondern als habe – sagen wir einmal – der Goethezeit-Maler Jakob Philipp Hackert eine ordentlich gegliederte, kühl beleuchtete Landschaft gemalt.

Oder, musikalisch gesprochen: Bei Nagano führt eher der lichte, erhabene Tonfall des von Berlioz hochverehrten Christoph Willibald Gluck Regie, nicht der brodelnde Hexenkessel eines Franz Liszt. Frisch und durchsichtig wirkt der Klang des Orchesters aus Montréal. Hier interessieren Entwicklungen, Dissoziationen von Klang und Form, Reibungen und Verschränkungen des Materials. Kochende Emotionen, Wahn und Rausch, Bizarres und Magisches treten unter diesem nahezu perfekt gestalteten Klanggewand nicht offen hervor: Es scheint, als verhülle ein kostbar-leicht gewebter Stoff ihre brutale Unmittelbarkeit.

Wer sich auf diesen distanzierten Zugang zu Berlioz einlässt, muss zunächst Askese üben: Das Idyllische und das Fiebrige im zweiten Satz haben keine Farbe. Der „Szene auf dem Lande“ fehlt der melancholisch träumende Duft, den eine spannungsreiche Agogik, das Spiel mit Pause, Fermate und melodischem Bogen erzeugt. In der psychedelischen Wahnwelt des Finalsatzes sind weder die klanglichen Extreme etwa von Klarinette und Fagott ausgereizt, noch spielt das – ausgezeichnet disponierte – Blech mal so richtig „dirty“.

Aber die Belohnung lässt auch nicht auf sich warten: Nagano weiß ja, was er tut, sein Tauschgeschäft zeitigt Früchte. Er führt konsequent weiter, was einst Lorin Maazel mit dem Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks schon einmal durchexerziert hat: Gegen alle Kritik an den formalen Dispositionen gibt er Berlioz vor dem Hintergrund Beethovens die Würde als Symphoniker zurück. Hier erklingt eben nicht romantische Stimmungsmusik, sondern trotz aller „idée fixe“ ein auch aus seiner Form heraus faszinierendes Werk. Und um diese Erkenntnis nicht durch den überwältigenden Effekt zu übertönen, übt Nagano überlegte Zurückhaltung. Die Münchner mochten ihn deswegen nicht – aber wer sagt, dass an der Isar das Urmaß musikalischen Denkens definiert wird?

Mit dem 21jährigen Kit Armstrong hat Nagano einen Partner für Franz Liszts Zweites Klavierkonzert gefunden, der es ihm in der Verweigerung des Naheliegenden gleich tut. Hei, wie könnten die Finger fliegen, wie könnte das Pathos prunken, wie könnte der mondäne Virtuose sein Publikum becircen! Nichts dergleichen bei dem sehr ernsten, einmal zu reif, dann wieder fast kindlich schüchtern wirkenden Armstrong: Wie absichtslos verwebt er die Arpeggien des Beginns aufs Delikateste mit dem Orchester.

Wie glücklich geben und nehmen sich die Musiker aus Montréal und der Solist die Motive und Stimmungen gegenseitig weiter. Wie geschmackvoll finden sich die kontrollierte Noblesse des Pianisten und der fein-sonore Ton des Solo-Cellos zu intimer Salonmusik zusammen. Hier wird eher über Liszt meditiert als Material lustvoll ausgestellt. Für jeden Freund saftigen Musizierens enttäuschend, wer aber subtile Zwischentöne und einen moderat-unkonventionellen Zugang liebt, wird reich beglückt. Auch in seiner Zugabe hält sich Kit Armstrong konsequent von virtuosem Auftrumpfen fern: eine zart sinnierende Liszt-Miniatur statt einer beifallheischenden Glanznummer.

Mit Claude Viviers „Orion“ bringt das Orchester einen Blick auf Kanadas zeitgenössische Musik mit: Der 1948 geborene Vivier studierte unter anderem in Köln bei Karlheinz Stockhausen, ließ sich von östlich-asiatischer Musik inspirieren und kam 1983 durch einen Mord in Paris ums Leben. Das knapp viertelstündige Werk, 1980 vom Montréaler Orchester unter seinem damaligen Chef Charles Dutoit uraufgeführt, setzt ausgiebig Schlagwerk ein, aber der Solo-Trompete ist vorbehalten, eine Melodie vorzustellen, die in sechs Abschnitten verarbeitet wird. Das klingt, wie es eben in den achtziger Jahren geklungen hat: tonal gezügelt, klangverliebt und in ahnungsvoller Ruhe meditierend. Ein Konzert, das in der Sicht auf Berlioz wie auf Liszt aufschlussreich ent-täuschte.

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Über Werner Häußner

Redakteur, Musikkritiker, schreibt u.a. für WAZ (Essen), Die Tagespost (Würzburg), Der Neue Merker (Wien) und das Online-Magazin www.kunstmarkt.com.
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