Theater fressen Texte auf – eine Polemik

Besser wär’s vielleicht, man ließe die Finger vom Thema. Denn hierbei gerät man ganz leicht in die Nähe der rituell ratternden Empörungs- und Skandalisierungs-Mechanismen der Boulevardpresse. Aber sei’s drum:

Beruflich bedingt, bin ich früher öfter ins Theater gegangen, meist in NRW, gelegentlich darüber hinaus. Jetzt muss ich dieser Pflicht nicht mehr nachkommen, sondern darf aus freien Stücken wählen. Und was soll ich sagen? Ich gehe kaum noch hin. Mir fehlt wenig. Ich vermisse das landesübliche Treiben auf den Bühnen nicht allzu sehr. Nur selten stellt sich ein kleiner Phantomschmerz des Verlustes ein. Alle anderen Kultursparten liegen mir inzwischen näher, fürchte ich.

Warum ist das wohl so?

Ich zitiere: „…was ich am langweiligsten finde: dass sich die jungen Regisseure heute so als Erfinder aufspielen. Die schreiben ihre eigenen schlechten Texte in die Stücke hinein. Das ist so blöde und eigentlich eine Frechheit. Wir sind, jedenfalls im Theater, in einem kulturellen Tief…“

Die vorigen Sätze stammen aus André Müllers Interview mit den Theaterregisseur Luc Bondy, das die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung kürzlich (am 4. Juli) abgedruckt hat. Bondy, dieser wundervolle Theatermann, spricht mir aus dem Herzen, auch mit diesem Nachsatz: „…weil die Regisseure, um die Kritiker zu beeindrucken, dauernd interpretieren und irgendwelche Ideen haben, was ich grauenvoll finde.“

Die Welt in Blut
und Sperma tauchen

Gewiss: Man hat im Laufe der Jahre etliche, durchaus beglückende Inszenierungen mit grandiosen Menschendarstellern sehen dürfen, so auch just von Bondy oder von Andrea Breth und einigen anderen.

Doch allzu oft musste man wahren Orgien beiwohnen, die mit den jeweiligen Stücken kaum noch zu tun hatten, sondern nur mit den weit überschießenden, elend selbstgefälligen Kopfgeburten der jeweiligen Regisseure. Das „Überschießen“ war häufig recht wörtlich zu nehmen, handelte es sich doch vielfach um weltverachtendes „Spritztheater“ mit allerlei sexuellen Abweichungen, mit Blut, Schweiß, Tränen, Kotze, Kot, Pisse und Sperma. Menschen, die sich jederzeit wohlfeil übers Ekelfernsehen der Privatstationen aufregen würden, produzieren haufenweise Ekeldramaturgie.

Denn eins gilt ja gemeinhin als ausgemacht: Der ekle Zustand von Welt und Gesellschaft lässt sich längst nicht mehr beschönigen. Und also wird man als Zuschauer ins Wechselbad getaucht: Mal werden Stücke haltlos verjuxt oder – noch weitaus häufiger – in ausweglose Depression getrieben. Immer aber: gründlichst „umgedeutet“ und (oh, Hasswort!) „entstaubt“; ganz so, als wären etwa Schiller und Kleist nur noch staubige Gesellen.

Die Texte, ob nun klassischer oder neuerer Machart, werden (falls nicht ohnehin rabiat gekürzt) gern nur noch achtlos genuschelt, ja vor die Kartenkäufer hingerotzt. Mögliches Motto der permanenten Publikumsverachtung: „Da habt’er euern Scheißtext. Seht doch zu, was ihr damit anfangt, ihr ***“ Dabei haben sich solche „Provokationen“ doch längst erledigt. Es gibt keine Tabus mehr.

Selbstverwirklichung
der Regisseure

Wie viele hundert Stunden hat man damit verbracht, der rücksichtslosen Selbstverwirklichung halbgarer Regie-„Talente“ zuzuschauen; quälend langwierig mitunter schon an einem Abend, auf Dauer besehen ein ruchloser Raub an Lebenszeit. Häufig hat man diese kulturförmigen Maßnahmen nur noch „abgesessen“. Saison für Saison ein anschwellender Verdruss.

Irgendwann war‘s dann so weit: Man hat verschämt dem vormals als naiv belächelten und in der Theaterszene flugs „erledigten“ Hamburger Ex-Bürgermeister Klaus von Dohnányi beipflichten können, der „seine“ Klassiker hat wiedererkennen wollen. Es ist stets problematisch, wenn sich Politiker in solche Belange einmischen. Auch mag der Hanseat seinen Einwurf ungeschickt und schon gar nicht szenekompatibel formuliert haben, doch hatte er deswegen völlig unrecht?

Außerdem ist er keineswegs allein geblieben mit seiner Auffassung – und wir reden hier nicht von so genannten „Spießern“. Luc Bondy habe ich bereits erwähnt. Doch auch sonst mehren sich die gewichtigen, sachkundigen Stimmen, die mit allfälligen Auswüchsen des so genannten „Regietheaters“ harsch ins Gericht gehen – aus wechselnden Motiven und Perspektiven, doch letztlich mit ähnlicher Stoßrichtung.

Seit etlichen Jahren führt beispielsweise der FAZ-Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier scharfzüngige Gefechte wider die vermeintlichen „Tabubrüche“ auf deutschen Bühnen. In letzter Zeit haben Schriftsteller wie Daniel Kehlmann (zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 2009) und Sibylle Lewitscharoff (im Rahmen der „Hamburger Begegnung, Mai 2010) gegen die Anmaßungen so mancher Theaterleute gewettert.

Statt Wilhelm Tell ein
Onanist in Nazi-Uniform

Im Magazin der Süddeutschen Zeitung schrieb der Journalist und Autor Rudolph Chimelli, er hätte gern einige Jahrzehnte früher gelebt, denn dann hätte er „Opern sehen können, wie deren Komponisten sie sich gedacht hatten, nicht so, wie Regisseure, die auf Originalität versessen sind, sie heute inszenieren. Im Theater hätte ich nicht erleben müssen, dass, wenn ich eigentlich den Reden Wilhelm Tells oder Hamlets lauschen wollte, der Herausgeber der Wochenzeitung ,Der Stürmer‘ Julius Streicher auf der Bühne onaniert.“

Dass solche Äußerungen des Unmuts und Überdrusses ebenso angreifbar sind wie dieser Beitrag, steht außer Zweifel. Aber sie sollten diskussionswürdig sein und nicht einfach mit Abwehrreflexen abgetan werden. Damit, dass Theaterleute immer gleich ihre Freiheit(en) bedroht sehen, ist es nicht getan.

Das „Regietheater“, das sich mit zuweilen zerstörerischer Lust und Gier über Texte (und deren Autoren) hermacht, ist vorwiegend eine deutsche Spezialität. Die Ausarbeitung der Frage, ob dies auch mit den (im internationalen Vergleich) immer noch ordentlichen Subventionen zu tun haben könnte, schenken wir uns hier. Wer kaum finanzielle Risiken eingeht, kann ja inhaltlich ganz anders zulangen (was im Gegensatz zum reinen Kommerz auch zu preisen ist).

Holzschnitthaft gesagt: Nach allem, was man so weiß, wird Theater weltweit meistens texttreuer, braver, oft auch gravitätischer und ehrfürchtiger gespielt. Natürlich hat der beherzte, unkonventionelle Zugriff des Regietheaters unendlich viel zutage gefördert, den Texten verborgene Reichtümer bzw. Geheimnisse entrissen oder (in den schönsten Fällen) abgelauscht. Wer das bestritte, der wäre nicht im Bilde.

Doch wer zählt die Fälle, in denen minder begabte Theaterkräfte die Textvorlagen sinnlos zerfetzt und zertrümmert haben? Mit gelindem Schrecken sei’s geflüstert: Da wünscht man sich sogar hie und da, es möge wieder mehr „vom Blatt“ gespielt werden.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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