Eindrücke aus der Budapester Musikszene zum 60. Jahrestag des Ungarn-Aufstands

Das Müpa-Kulturzentrum in Budapest. Foto: Werner Häußner

Das Müpa-Kulturzentrum in Budapest. Foto: Werner Häußner

Vor 60 Jahren gingen in Budapest Studentinnen und Studenten der Technischen Universität auf die Straße. Sie forderten demokratische Veränderungen. Der Studentenprotest weitete sich in Windeseile aus: Am 23. Oktober 1956 versammelten sich rund 200.000 Ungarn vor dem Parlament. Die Menschen forderten Meinungs- und Pressefreiheit, freie Wahlen und Unabhängigkeit vom stalinistisch geprägten Sowjetsystem.

Die Regierung ließ in die Menge der versammelten Bürger schießen. Noch in der Nacht weitet sich die Demonstration zum Volksaufstand auf. Zehn Tage später bereitet die Sowjetarmee dem ungarischen Volksaufstand ein blutiges und brutales Ende. 2600 Ungarn kommen ums Leben, 200.000 verlassen das Land, allein gut 15.000 gehen nach Deutschland, 8000 nach Österreich. Seit 1989 ist der 23. Oktober ungarischer Nationalfeiertag.

Das ist der Hintergrund für ein musikalisches Gedenken an die Erhebung und ihre Opfer. Vor zehn Jahren, zum 50. Gedenktag, wurde die Kantate uraufgeführt. Jetzt, zum 60. Jahrestag, erklang sie wieder im Rahmen des Contemporary Arts Festivals – abgekürzt CAFe – im beeindruckenden, akustisch ausgezeichneten Großen Saal des Müpa Budapest, des 2005 eröffneten Kulturzentrums an der Donau, gegenüber des neuen Nationaltheaters. Zwei Konzert- und Theatersäle, ein Konferenzzentrum und das Museum Ludwig für zeitgenössische Kunst sind in dem imposanten Komplex vereint.

„Istenkép“ (Gottesbild) nennt sich die Kantate für großes Orchester, Chor und zwei Solisten, komponiert von Levente Gyöngyösi. Der 1975 in Cluj in Rumänien geborene Komponist kam 1989 nach Ungarn, studierte am Bartók-Konservatorium Komposition und Klavier, und hatte seinen ersten großen Erfolg mit der 2000 uraufgeführten Oper „Kalif Storch“, die seit 2005 im Repertoire der Ungarischen Nationaloper geführt wird. Gyöngyösi schrieb außerdem zwei Sinfonien, eine Sinfonia concertante, das Oratorium „Missa Vanitas Vanitatum“ und eine große Anzahl geistlicher Werke für Chöre. Zur Zeit, so ist auf seiner Homepage zu lesen, arbeitet Gyöngyösi an einem Musical nach Bulgakows „Der Meister und Margarita“.

Die fünfteilige Kantate, beginnend mit einem unbegleiteten Flötensolo, zeigt sich als ein Werk voll Pathos und Melancholie, abwechslungsreich gegliedert, gekonnt instrumentiert und in einer die Möglichkeiten und Grenzen der Tonalität ausschreitenden Schreibweise. Zu hören sind hektisch-dramatische Repetitionen im Orchester, Bläserattacken, komplexe Akkorde, die an Mussorgsky und Schostakowitsch erinnern. Aber auch ein bassloser, verklärter Frauenchor nach dem von Polina Pasztircsák mit klarer, unangestrengter Stimme vorgetragenen „Gebet für die Gefallenen“, dem Mittelteil des Werks. Im spröden, expressiven Solo des Bassbaritons Géza Gábor geht es um János Kádár, den Chef der prosowjetischen Regierung nach der Niederschlagung der Freiheitsbewegung.

Solche Musik des Gedenkens wird es schwer haben, nationale Grenzen zu überwinden, weil sie (zu) stark an ein konkretes historisches Ereignis gebunden ist. Aber die Musik spricht für den Komponisten Gyöngyösi – und vielleicht gelingt es, auf sein Schaffen aufmerksam zu machen: In einem hoffentlich weiter zusammenwachsenden Europa sollte die Musik der Nachbarn nicht unbeachtet bleiben. Das Budapester Festival ist dafür ein Anlass. Der Besucher, der nicht vertraut ist mit dem ungarischen Kulturleben, wünscht sich allerdings mehr Information, als dem knappen Programm-Faltblatt zu entnehmen ist: Will das Festival internationales Publikum anziehen, bräuchte es – gerade bei dieser Kantate – einen Text mit einer Übersetzung.

Das Konzert, das die Kantate „Istenkép“ abgeschlossen hat, stand unter dem Titel „Zeitgenössische Romantiker“. Die Ungarn haben offenbar keine Probleme mit einer Stilrichtung, die so vielfältig wie rückwärtsgewandt, so ungenau zu definieren wie unter Umständen ideologisch belastet ist. Im Programm des Festivals stehen die „Romantiker“ von heute neben Uraufführungen junger Komponisten und den inzwischen zu „Klassikern“ der (Post-)Moderne gewordenen Tonschöpfern Krzysztof Penderecki und Steve Reich – letzterer gewürdigt in einem Konzert zum 80. Geburtstag in der Liszt-Akademie.

Was diese neuen „Romantiker“ ausmacht, ist kaum zu beschreiben. Der Begriff ist wohl weder an der literarischen Romantik des frühen 19. Jahrhunderts festzumachen, noch bezieht er sich auf „romantische“ philosophische Begriffe. Der Rückgriff auf spätromantische musikalische Elemente oder der neue Stellenwert der Melodie sind ebenfalls keine verlässlichen Kriterien: Solches findet sich bei modernen amerikanischen Komponisten ebenso wie bei einem traditionsbewussten Zeitgenossen und Klangsucher wie Wolfgang Rihm.

Am einfachsten noch lässt sich klären, was „Romantiker“ bedeuten soll, wenn man László Dubrovay zu Wort kommen lässt. Der 1943 geborene Komponist hat sich früher mit experimenteller und elektronischer Musik beschäftigt und war von 1972 bis 1975 als Austauschstudent des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes bei Karlheinz Stockhausen und Hans-Ulrich Rumpert. Von 1976 bis 2008 lehrte er an der Musikakademie Budapest Musiktheorie. Seit den 1990er Jahren wandte sich Dubrovay der Tonalität und der Melodie zu. Mit einem neuen harmonischen System will er nach eigenen Worten melodisches Denken und Singen wieder ermöglichen. Nach den „Abweichungen“ der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, so seine Überzeugung, könne die Musik nun wieder zum vollständigen Reichtum menschlichen Denkens und Fühlens zurückkehren.

Hört man sein Zweites Klavierkonzert, betitelt „Concerto romantico“, identifiziert sich diese musikalische „Romantik“ als historistisch und rückwärtgewandt. Drei Sätze in der üblichen Folge Schnell-Langsam-Schnell, überkommene Formschablonen. Das Konzert ist eine nostalgische Beschwörung: Fortschrittsgedanke, hebe dich hinweg! Materialidee, entfleuche! Stattdessen wird dem Solisten gehuldigt, als hätte es Johannes Brahms nie gegeben: János Balázs spielt wie ein auferstandener Liszt Ferenc. Hier perlende Läufe, dort rauschende Arpeggien und donnernde Parallelen, ein „träumerisches“ Seitenthema im ersten, grummelnde Bass-Bedeutung im zweiten Satz. Alles ist wie früher – nur Dubrovays melodische Erfindung kann leider weder mit Schubert noch mit Grieg mithalten. Der zweite Satz mag die Aufmerksamkeit länger fesseln: Da hat Dubrovay mit Bläsersoli und Streicherglissandi das „romantische“ Klangklischee ein bisschen verfremdet. Und das Eingangsthema des dritten Satzes ist so gestrickt, dass ein Komponist des 19. Jahrhunderts etwas daraus hätte machen können.

Die postmoderne Egalität, die Gleichstellung aller Ästhetiken, die Unfähigkeit, Kriterien zu benennen, kommt solchen Entwicklungen durchaus entgegen. Vielfalt wird ermöglicht, Qualitätsurteile geraten ins Zwielicht. In der Bildenden Kunst ist dieser Prozess schon lange im Gang; was Scharlatanerie ist und was Genie, entscheiden meist Museumsdirektoren, renommierte Galerien und ein kaufkräftig-exquisites Sammlerpublikum. In der Musik ist das Ziel der Reise noch nicht absehbar. Es gibt ja sogar Stimmen, die vom Ende der (klassischen) Musik sprechen. Ein Mann wie László Dubrovay dürfte trotzdem – auch wenn etwa in der Malerei das „Altmeisterliche“ eine gewisse Nische besetzt – mit seiner Imitation der Vergangenheit keine Chance haben. Vorbei ist eben vorbei, die Zeit lässt sich weder ignorieren noch zurückdrehen.

Dann geht man schon eher mit György Orbán mit: 1947 in Siebenbürgen geboren und als Kompositionsprofessor an der Liszt-Akademie eine der einflussreichen Personen in der ungarischen Musikszene, hat in seiner „Serenade Nr. 4“ eine üppig instrumentiertes Capriccio geschaffen, melodisch attraktiv, rhythmisch zupackend, mit Elementen aus Ragtime und Jazz, äußerst virtuosen Hornstellen und neckisch gestopfter Trompete. Das fähige Dohnányi Orchester Budafok unter Gábor Hollerung hat in diesem – wie in der anderen Werken des Abends – dankbare Aufgaben und sorgt für den glatten, widerstandslosen Klang. Béla Bartók jedenfalls, wie nachdrücklich er auch beschworen werden mag, ist weit entfernt.

Hinweis: Die Deutsch-Ungarische Gesellschaft in der Auslandsgesellschaft NRW e. V. in Dortmund lädt aus Anlass des Gedenkens an den 60. Jahrestag der Revolution von 1956 zu einem Filmabend ein: Am Dienstag, 25. Oktober, 19 Uhr, wird in der Steinstraße 48, (44147 Dortmund) der Film „Liebe“ von Károly Makk gezeigt. Eintritt frei.

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Über Werner Häußner

Redakteur, Musikkritiker, schreibt u.a. für WAZ (Essen), Die Tagespost (Würzburg), Der Neue Merker (Wien) und das Online-Magazin www.kunstmarkt.com.
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