„Das Floß der Medusa“ – 50 Jahre danach: Hans Werner Henzes Oratorium von 1968 bei der Ruhrtriennale

Szenenbild aus der besprochenen Henze-Aufführung (Foto: Ursula Kaufmann/Ruhrtriennale)

Théodore Géricaults Gemälde „Das Floß der Medusa“ (1819) hängt im Pariser Louvre: Zuletzt ist es mir zweimal kurz hintereinander begegnet.

Einmal in einer Video-Arbeit von Marcel Odenbach in der Ausstellung „Entfesselte Natur“ in der Kunsthalle Hamburg: Er filmte Geflüchtete, die übers Mittelmeer nach Europa gekommen sind, im Louvre beim Betrachten des monumentalen Schiffbruch-Dramas. Und nun war es das „Aufmacher Bild“ von Hans Werner Henzes gleichnamigem Oratorium, das bei der Ruhrtriennale aufgeführt wurde. Kein Zufall, denn die Flucht übers Mittelmeer beschäftigt, schockiert und klagt Europa an.

So gewinnt Henzes klassenkämpferisches Werk von 1968 eine neue Aktualität und erweist sich beinahe als zeitlos. Denn das Libretto von Ernst Schnabel macht noch immer deutlich: Es geht um die „vielzahligen“ Armen, die nichts zu sagen haben und die den Interessen der Reichen und Mächtigen geopfert werden.

Gläsernes Wasserbecken als zentrales Bühnenelement

Im konkreten Fall retten sich die Offiziere, Priester und reichen Kaufleute nach dem Schiffbruch der Fregatte Medusa auf ihrem Weg in den Senegal in die Beiboote, während alle anderen auf einem grobgezimmerten Floß einfach ihrem Schicksal überlassen werden. Von 150 überleben nur 15 die Strapazen auf See bei glühender Sonne. Hunger und Durst führen zu Kannibalismus und Gewalt.

Sorgfältig und dezent in Szene gesetzt haben Henzes Musik Kornél Mundruczó und Márton Ágh (Bühne), die Musikalische Leitung lag bei Steven Sloane, der die Bochumer Symphoniker sowie die jungen und erwachsenen Sänger von Chorwerk Ruhr und der Züricher Singakademie zu einem packenden emotionalen Zusammenspiel vereinte.

Zentrales Bühnenelement ist ein gläsernes Wasserbecken, durch das der Sprecher Tilo Werner mit hochgekrempelten Hosen watet, indem er uns das ganze Ausmaß der Katastrophe auf dem Schiff nach und nach erzählerisch entfaltet. Durch die Spiegelungen an Wänden und Decken hat man als Zuschauer das Gefühl, in einem Aquarium zu sitzen – allerdings in einem mörderischen.

Klage und Anklage aus dem Reich der Toten

Nach und nach wechseln immer mehr Choristen von der linken Seite (die Lebenden) auf die rechte (in das Reich der Toten). Sie klagen durch die Sprache der Musik. Doch sie klagen auch an, denn es ist nicht nur Verzweiflung, die aus ihnen singt, sondern auch Wut. Zorn auf diejenigen, die sie verlassen haben, die sie in diese Situation gebrachten haben, die sie selbst zu Gemeinen gegenüber ihren Mitleidenden werden lässt. Hier zündet der revolutionäre Impetus, den man Henze 1968 vorwarf, auch heute wieder.

Umgekehrt behalten vielleicht auch Henzes damalige Kritiker aus dem linken Lager recht, die die Uraufführung als bourgeoise Kulturveranstaltung verurteilten. Dass mit dem Bewusstwerden der Missstände durch die künstlerische Darbietung hat zwar wieder einmal gut geklappt, allein: geändert hat sich dadurch noch nichts. Dafür sind nun die Politiker zuständig…oder?
www.ruhrtriennale.de

 

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