Eine Stimme, die vom intensiv gelebten Leben zeugt: Marianne Faithfulls großartiges Album „Negative Capability“

Also Leute, ich kann natürlich nur für mich sprechen, doch sage ich es frei heraus: Soeben habe ich die wohl beste Popmusik seit längerer Zeit gehört. Zumindest rangiert sie auf der allseits offenen Skala sehr, sehr weit oben. Wobei ich mich scheue, dafür das reichlich abgenutzte und gewöhnliche Wort „Pop“ zu verwenden. Ich meine Marianne Faithfulls neues Album „Negative Capability“. Der Titel verweist übrigens auf eine literaturtheoretische Formel von John Keats. Wer will, möge weiter nachforschen.

„Negative Capability": Cover des neuen Albums von Marianne Faithfull (© BMG Rights)

„Negative Capability“: Cover des neuen Albums von Marianne Faithfull (© BMG Rights)

Welch eine Weisheit und Erfahrung ist in dieser Stimme aufgehoben, welche Würde, welches Scheitern und welch ein Neubeginn trotz allem; welch ein ahnungsvolles Wissen um Liebe, Leben und Tod. Dies alles sollte man bevorzugt zu nächtlicher Stunde hören. Nachfühlend und nachdenkend.

„As Tears Go By“ revisited

Die inzwischen 71 Jahre alte Frau verbirgt beileibe nicht, dass sie derzeit einen Gehstock braucht, sie steht sehr offensiv zu ihrer Schwächung und zeigt sich auch auf dem Plattencover mit der stilvollen Stütze. Sie singt mit zunehmend brüchiger, ungemein rauchiger und belegter Stimme. Doch wage es niemand, ihr und ihrem Gesang Schönheit abzusprechen. Sie verleiht noch jedem klassischen Titel eine ganz andere, ungeahnte Färbung und Tönung. Man höre ihre jetzige Version des Stones-Songs „As Tears Go By“ (den sie 1964 erstmals aufgenommen hat) oder von Bob Dylans „It’s all over now, Baby Blue“. Das ist einfach groß und zeugt von gelebtem Leben.

Über die Abgründe des Terrors

Auch die neuen Songs sind überwiegend von besonderer Güte. Sie handeln nicht nur immerzu von Liebe, Einsamkeit und Tod, sondern etwa auch von den Abgründen des Terrorismus – am Beispiel des furchtbaren Anschlags auf das Pariser Musikzentrum „Bataclan“. Der entsprechende Titel heißt „They Come at Night“. Und es wäre bei weitem zu wenig gesagt, wollte man aufs Klischee zurückgreifen, dass er „unter die Haut“ ginge.

Mir fallen nur wenige ein, die in den letzten Jahren ebenbürtig gewesen sind. Der späte Leonard Cohen wäre zu nennen, gewiss. Der späte Johnny Cash der „American Recordings“ desgleichen. Das also ist die erhabene, ja Schwindel erregende Höhe, auf der sich auch Marianne Faithfull mittlerweile bewegt. Mit mancher Silbe bangt man um sie, mit jeder Silbe triumphiert sie – auf ganz und gar uneitle, stille, nah am Schweigen liegende, doch umso eindringlichere Weise.

Die Stones-Zeit weit hinter sich gelassen

Und dabei haben wir die steigernde Dimension der melancholischen Texte noch nicht einmal eigens berücksichtigt, nicht die Instrumentierung (vielfach Cello und Klavier) gewürdigt und auch nicht die wundervoll stimmige Phrasierung näher erwähnt.

Kein Wunder, dass Marianne Faithfull nicht mehr nach ihren wild bewegten Zeiten mit Mick Jagger und den anderen Rolling Stones befragt werden mag. Wie weit hat sie das hinter sich gelassen! Wie eigen ist der Weg, den sie seither beschritten hat.

Dieses Album ist Anfang November erschienen, also noch ganz neu – und doch schon ein Klassiker.

Zwischen CD, LP, Streaming und Tournee

Und nein: Ich habe kein womöglich korrumpierendes Rezensions-Exemplar erhalten, sondern habe alles per Streaming gehört. Natürlich jeden Titel von Anfang bis Ende, wie es sich für ein solches Album gehört. Mithin so, dass diese großartige Künstlerin finanziell nicht ganz leer ausgeht. Denn der Dienst honoriert die Urheber ja erst dann halbwegs reell, wenn jemand 45 Sekunden eines Titels gehört hat. Ein leidiges Thema für sich…

Bleibt innig zu hoffen, dass Marianne Faithfull demnächst auf Tournee geht und auch in deutschen Städten auftritt.

Marianne Faithfull: „Negative Capability“. BMG Rights. Als CD ca. 14,99, als LP 23,99 €.

Eine Kostprobe: https://www.youtube.com/watch?v=ndseNmYb4s0

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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2 Antworten zu Eine Stimme, die vom intensiv gelebten Leben zeugt: Marianne Faithfulls großartiges Album „Negative Capability“

  1. Bernd Berke sagt:

    Danke für Zuspruch und Interview-Tipp. Und der defekte Silberling (wie ärgerlich!) sollte sich doch umtauschen lassen.

  2. Gerhard Otto sagt:

    Hallo B.B.,

    „auf den Punkt“ geschrieben … – Chapeau!
    Ich hab‘ offensichtlich ein recht komisches CD-Exemplar erworben.
    Der Silberling scheint im Player festzukleben … 😉

    Übrigens sehr interessant:
    Marianne Faithfull interviewed by Nick Cave at La Frette Studio in Paris
    (Laufzeit 18 Minuten)
    https://www.youtube.com/watch?v=EdfKx1z4Zag

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