„Du musst Dein Leben ändern!“

29. 05. 2011: „Du musst Dein Leben ändern!“
Mahlers Siebte mit den Bambergern Symphonikern unter Jonathan Nott in der Philharmonie Essen

Hätte ich genau diese Aufführung der 7. Symphonie Gustav Mahlers schon früher hören können und genau so hören können, wie es gestern Abend in der Essener Philharmonie der Fall gewesen ist, und wäre das noch in sehr jungen Jahren erfolgt und nicht erst jetzt nach einem langen Berufsleben, ab sofort würde ich einen ganz anderen Berufsweg eingeschlagen haben und mein Leben fortan ganz der Musik widmen.

1952, von Salzburg in den Essener Norden gekommen, hätte ich so den zweieinhalb Jahre zuvor begonnenen Klavierunterricht auch unter den widrigsten Bedingungen einer vorherrschend musikfremden Umgebung, in der ich nun weiter aufwuchs, unbedingt fortgesetzt und hätte nicht mehr erst in einem nur vorgestellt zweiten Leben, sondern damals ganz ernsthaft und entschieden (unter Berücksichtigung aller notwendigen Vorstufen) Dirigent oder gar Komponist werden wollen.

Aber hätte ich mit 10 diese Mahler-Musik schon so hören können? Wäre ich dafür schon bereit gewesen, so unmittelbar und so bezwingend nah, wie sie mir gestern Abend endlich gekommen ist? Und hätte es gegen 1952 irgendein Orchester und irgendeinen Dirigenten in der Welt gegeben, die einem ausgerechnet Mahlers Siebte auf diese Weise so hätten nahebringen können? Ich glaube nicht. Und nicht nur, weil der Mahler-Boom, den ich alsbald mitbekommen habe, so recht erst in den 60er-Jahren eingesetzt hat. Auch als ich über Rundfunk und Schallplatte schon längst für die Werke Mahlers gewonnen war, fand ich lange keine einzige Aufnahme der Siebten, die mich wünschenswert überzeugt bzw. begeistert oder gefesselt hätte.

Erst die Begegnung mit der Aufnahme des Utah Symphony Orchestra unter Maurice Abravanel, und nicht schon die mit den Aufnahmen Georg Soltis, Leonard Bernsteins und Rafael Kubeliks, hat maßgeblich etwas daran geändert. Und zwar recht eindrucksvoll schon mit dem Symphoniebeginn. Auf diese Abravanel-Einspielung stieß ich erst in den 70er-Jahren und sie blieb fortan (fast bis gestern) meine persönliche Referenzaufnahme. Aber mein Leben aufwühlend geändert hat auch sie nicht mehr. Erst nach der gestrigen Aufführung der Mahlerschen Siebten durch die Bamberger Symphoniker unter ihrem Chefdirigenten Jonathan Nott weiß ich genau: Wäre ich jetzt noch jung, bliebe mir nun gebieterisch nur der Weg in die Musik, so dornig er auch wäre. Ich würde als junger Mensch spätestens jetzt mein Leben daraufhin ausrichten, meine Lebensplanung ändern.

Noch nie hat mich die Komposition und die Darbietung der ersten drei, vier Sätze dieser Symphonie so sehr überzeugt wie gestern. Auch im fünften Satz war die orchestrale Darbietung auf gleichbleibend hohem Niveau, mit dem kompositorisch angestrebten Verhältnis dieses Satzes zu den vier vorausgegangenen indessen habe ich (nur vorläufig?) noch gewisse Schwierigkeiten. Mahler scheint in diesem letzten Satz geradezu Wert darauf gelegt zu haben, hin und wieder ausgesprochen triviale, musikalisch eher minderwertig eingestufte Themen zu zitieren, zu verwenden und ironisch wichtig zu nehmen: „Schlösser, die im Monde liegen“ klingt da operettenhaft an, wie später in Bartóks „Konzert für Orchester“ das populäre „Dann geh ich ins Maxim“.

Im Juli werde ich Mahlers Siebte noch einmal in Essen hören: diesmal mit den hier Heimrecht habenden Essener Philharmonikern unter Stefan Soltesz. Kein Zweifel, dass auch diese Darbietung gut sein wird. Dennoch habe ich ein bisschen Sorge: Denn besser als die gestrige der Bamberger Symphoniker kann sie kaum sein. Gespannt bin ich aber darauf, wie der erste Satz, der mir bei jeder Interpretation anders vorkommt, diesmal klingen wird. Und ob mir der fünfte Satz langsam einzuleuchten vermag.

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4 Antworten zu „Du musst Dein Leben ändern!“

  1. Gestern, am 21. 10. 2011, waren die Bamberger Symphoniker unter Jonathan Nott wieder zu Gast in der Essener Philharmonie. Gegeben wurden Schuberts „Unvollendete“ und Mahlers „Vierte“. Wiederum alles bestens! – Und dennoch: mein persönliches, außerordentliches Erlebnis (s. o.) wiederholte sich nicht noch einmal. Ob es nur an dem besonderen Platz im Mai gelegen hat? Ich hatte da den direkten Blick von oben, fühlte mich gleichsam inmitten der Musiker. – Aber gestern saßen wir doch auch sehr gut? Ein Mittelplatz in der fünften (eigentlich dritten) vorderen Reihe. Und dennoch. – Aber wie gesagt: Alles bestens!

  2. Nachtrag: Wie angekündigt habe ich Mahlers Siebte im Juli (also unlängst) noch einmal in einem Konzert gehört, diesmal mit den Essener Philharmonikern unter Stefan Soltesz. Die Darbietung war so gut wie erwartet, aber eben nicht überragend, noch nicht einmal sehr gut. Daher blieb der Zauber, die unermessliche Wirkung auf mich (und sei’s auch nur eine entfernt so ähnliche wie bei den Bambergern unter Nott) völlig aus. Ob das nur an meinem diesmal sehr weit vom Orchester entfernten Hörsitz gelegen hat? –

  3. Zu den Vorbedingungen und den noch unerwähnten Voraussetzungen meines obigen Beitrags nur noch dieses: Schon vielen Konzerten an den verschiedensten Orten habe ich dankenswerterweise beiwohnen können in meinem bisherigen Leben, eine ganze Reihe davon haben mir gut bis sehr gut gefallen, einige wenige haben mich sogar nachhaltig begeistert, aber kein einziges der bisherigen hätte mich zu einem derartigen Artikel bewogen wie den oben verfassten. Dabei weiß ich sehr gut, wovon ich rede. Vor etwa einem Jahr z. B. habe ich im Goldenen Saal des Wiener Konzertvereins die „Siebte Mahler“ mit dem Deutschen Sinfonieorchester Berlin unter Ingo Metzmacher gehört. Auch von dieser Darbietung des Werks war ich durchaus angetan, aber sehr sehr weit entfernt war dies dennoch von der Wirkung, die die Aufführung der Bamberger unter Jonathan Nott bei mir ausgelöst hat.

  4. Eine gut geschriebene, sehr anregende Einführung in Mahlers 7. Symphonie ist auf nur knapp sechs Seiten zu finden in dem zwar angstmachend voluminösen, aber doch auch insgesamt recht lesenswertem Buch von Jens Malte Fischer: „Gustav Mahler / Der fremde Vertraute“, Wien 2003, S.560 – S.565.

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