Die Gewalt und der Kunstanspruch – Gaspar Noés hirnzermarternder Film „Irreversibel“

Von Bernd Berke

Bei der Festspiel-Vorführung in Cannes gab es mehrere Ohnmachts-Anfälle, rund 200 Menschen verließen vorzeitig das Kino. Die Briten wollen den knallhartenStreifen allenfalls gekürzt für den Videomarkt freigeben.

Soll man ins Kino gehen, wenn ein Film lange Passagen enthält, bei denen man am liebsten davonlaufen würde? Eigentlich nicht. Doch Gaspar Noés Opus „Irreversibel“ (also: unumkehrbar) trägt den Kunstvorbehalt wie einen Schild vor sich her.

Raserei rückwärts in Zeittunnel

Knapp gesagt, geht es um Rache für eine Vergewaltigung. Doch Noé dreht den Stoff wüst durch den Wolf. Erzählt wird rückwärts, so dass man die wahnsinnigen Folgehandlungen schon vor den Anlässen kennt und stets verunsichert bleibt. Zudem trudelt die Kamera häufig im bösen Rausch. Schwindlig wird einem in diesem Tunnel der umgekehrt rasenden Zeit. Doch es kommt noch viel schlimmer.

Erste Szene: Ein fies verkommener Greis (sitzt er im Knast?) berichtet, dass er einst mit seiner Tochter geschlafen habe. Irgendwann erwähnt er das Lokal „Rectum“. Sofort segelt die Kamera los und irrt durch eine chaotische Verhaftungsszene mit viel Blaulicht. Was geht da vor?

Mit dem Feuerlöscher das Gesicht zerstört

Die nächste Sequenz (die ja zeitlich vorher spielt) ist reine Raserei, und die Kamera rast mit. Viele, viele Minuten lang sieht man schemenhaft, wie im höllisch roten Dämmerlicht zwei Männer durchs „Rectum“ hetzen und bestialisch schreiend einen Typen suchen. Das labyrinthische Gewölbe ist ein Sadomaso-Schwulenclub. Aus allen Ecken tönen Schmerzensrufe.

Marcus und Pierre aber sind auf echte Rache aus. Das erfährt man freilich erst später. Zunächst wirkt das Geschehen vollends grund- und bodenlos, damit umso schockierender. Optisch wie akustisch pulsiert und dröhnt die Szene wie besessen

Dann die hirnzermarternde Gewaltorgie: Pierre, eigentlich ein Mann des Wortes (wie sich nachher herausstellt), stößt einem Mann einen Feuerlöscher ins Gesicht – immer und immer wieder. Digitale Effekte zeigen täuschend echt die zusehends zerstampfte Kopfmasse. Dutzende Männer schauen zu, einer grinst. Da kann einem schlecht werden. Und man hegt Aggressionen gegen den Regisseur.

Die wohl schlimmste Vergewaltigung der Kinogeschichte

Weiter rückwärts spult sich die Geschichte, und man erleidet den „Grund“ der Rache (die sich am Falschen ausgetobt hat). Abermals will uns Noé mit allen filmischen Mitteln zwingen, ins Herz der Finsternis zu blicken: Neun ungeschnittene Minuten lang sieht man die wohl brachialste Vergewaltigung der Kinogeschichte. In einem Tunnel fällt ein Zuhälter aus purem anonymen Hass über die wehrlose Alex her (befremdlich, dass Monica Bellucci diese Rolle spielt). Der analen Penetration folgen zerstörerische Tritte in ihr Gesicht. Kinokritik hin oder her – man hält es nicht aus und schaut phasenweise weg.

Mit jeder Geburt beginnt das Elend neu

Was kommt noch? Vermeintlich heile Welt: Alex war Marcus‘ Freudin, sie erwartete ein Kind von ihm. Doch auch dies ist ein böses Omen. Denn schon in ihrem Liebesalltag sind Keime der (männlichen) Gewaltbereitschaft zu finden. Mit jeder Geburt, so wird suggeriert, beginnt das menschliche Elend neu. Der Film endet als Stroboskop-Gewitter im Urschlund des Zeittunnels; da, wo alles Übel begann.

Dieser Alptraum auf Zelluloid zerstört jeden Sinn, jeden Erklärungsversuch. Die Welt erscheint als unheilbares Jammertal. So tief stößt uns Noé in diesen Befund hinein, dass man glauben könnte: Es zieht ihn letztlich ins Jenseits, zur Erlösung vom Irdischen. Haben wir da etwa, unter brutalen Masken, einen religiös motivierten Film gesehen? Vielleicht. Ganz sicher aber ein Werk, das zum Himmel schreit – in jeglicher Hinsicht.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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