Lessings Nathan der Weise ist ein Klassiker, gefeiert als Versöhnungsdrama der Toleranz zwischen den Weltreligionen. Die Künstlergruppe „kainkollektiv“ sperrt sich allerdings gegen diese Lesart – und sucht in „Lessings Gespenster – Eine Heimsuchung nach Nathan der Weise“ die anarchistische Seite des Aufklärers. Die Stückentwicklung feierte jetzt ihre Uraufführung im Dortmunder Schauspiel als On Stage Produktion.
Die Zuschauer stehen in langer Schlange am Hintereingang des Schauspiels, laufen durch die Katakomben des Theaters, lesen ein Schild mit den Worten „Lessings Gespenster. Rumlaufen erforderlich“, um dann mitten auf der Bühne zu landen, ohne Stühle, nur mit Raum, der erobert werden will. Alles anders als gewohnt. Ein sinnstiftender Einstieg, wenn es darum geht, einen Klassiker deutscher Literatur gegen den Strich zu bürsten oder ihm zumindest Geheimnisse zu entlocken.
Die Bühne ist zweigeteilt durch eine riesige Holzwand. Auf der einen Seite sitzt eine junge Frau (Merle Wasmuth) im barocken Kostüm in einem Glaskasten, auf der anderen liegt schlafend der fast 60köpfige Dortmunder Sprechchor in Tüllröcken (Ausstattung Oliver Helf). Ein Bär mit Deutschlandbinde umarmt die Zuschauer, drei Musiker spielen Haydn. Ein Hauch von Spannung, auch von Melancholie liegt in der Luft. Das Tor zu einem Traum, einem Zauberschloss, einer seltsam schönen Reise.
Es gibt keine Handlung, keine Geschichte, sondern nur den Sturz in Gedanken und Emotionen. Das „kainkollektiv“, bestehend aus Mirjam Schmuck, Alexander Kerlin und Fabian Lettow, verweigert sich der Eindeutigkeit. Den Weg, den der Zuschauer an diesem Abend einschlägt, muss er selbst wählen. Der Flyer immerhin verrät: Lessings Frauenfiguren stehen im Zentrum, die jung, schön und am Ende doch immer Opfer sind. So wird Merle Wasmuth mal zu Emilia Galotti, mal zu Sara Sampson und immer wieder zu Recha, der Tochter von Nathan, die am Ende, wenn alle sich in den Armen liegen, alles verloren haben wird: ihren Liebhaber, ihren Vater, ihren Glauben. Die junge Frau, egal in welcher Gestalt, ist gefangen in der Rolle, die die Gesellschaft ihr auferlegt hat, erdrückt von Erwartungen, die sie nicht erfüllen kann – das gilt für die Figuren, aber auch für die Schauspielerin, für den heutigen Menschen. Verzweiflung und die Sehnsucht nach Freiheit und Ausbruch sprechen aus ihren Worten. „Das ist nicht zu verkraften, dass da immer schon Etwas im Raum ist, wenn wir erscheinen.“
Diesen Konflikt von Bild und Ich setzt das kainkollektiv beeindruckend um: Immer wieder treffen die Schauspielerin und ihre riesige Videoprojektion aufeinander, ist sie plötzlich umringt von dem auf sie einredenden Sprechchor oder erschlagen von dem riesenhaften Bild ihres Erziehers Nathan. Die Künstlergruppe greift aber auch das Paradoxon von Lessing selbst auf: Gefeiert als Vater der Toleranz und Versöhnung, hat er gelebt als saufender, spielsüchtiger Sozialfall.
Das Publikum kann sich mit diebischer Freude auf das Gebräu von Zitaten (von Joseph Beuys über Walter Benjamin bis zu Richard Wagner) stürzen. Oder aber es lässt sich fallen in den Sog dieses Abends, in die rauschhaften Bilder, Klänge und Emotionen – der vor allem getragen wird durch die großartige, charismatisch und zwingend spielende Merle Wasmuth, die in jeder Minute Zentrum der Inszenierung ist. Ein Stück, das mal heiter, mal verzweifelt und traurig, die Zuschauer mit vielen Fragen entlässt.
Die nächsten Termine: 22. April (18 Uhr), 6. Mai (18 Uhr)
P.S.: Kurzer Nachtrag zu dieser Besprechung (die so auch in der Westfälischen Rundschau erschienen ist): Während ich die Offenheit des Stücks durchaus mochte, habe ich im Nachhinhein gehört, dass es bei der Premiere auch Zuschauer gab, die von der Bühne geflüchtet sind.
Liebe Frau Albach, was soll Ihr Nachtrag beweisen? Dass Inszenierungen kontrovers aufgefasst werden? Das ist eine Binsenweisheit und schmälert, derart an eine Rezension hintenangestellt, die klare Linie des sonst sehr ein- und nachdrücklichen Artikels. Unnötig.