Die Hysterie als Ausdruck unserer Tage – Mülheimer Dramatikerpreis an René Pollesch

Von Bernd Berke

Mülheim. Es war eine spannende Spätsitzung, die uns die Jury der Mülheimer Stücketage diesmal bescherte. Lange quälte sich das sechsköpfige Gremium, gleichsam das „Dramaturgische Sextett“, mit einem Patt herum (drei Stücke mit je zwei Voten). Erst weit nach Mitternacht durchschlug man den gordischen Knoten. René Pollesch mit seinem knapp einstündigen Stückchen „world wide web slums“ wurde per Punkt-Abstimmung denkbar knapp zum Dramatiker des Jahres gekürt.

Damit hat man dem Zeitgeist heftig gehuldigt. Es braucht offenbar nur einer „Internet“ zu rufen und eine wildwüchsige Szenenfolge zum schicken Thema abschnurren zu lassen; schon finden sich flinke Juroren wie Robin Detje (Süddeutsche Zeitung), welche die Hysterie als einzig taugliche Ausdrucksweise unserer Tage feiern. Sollte dieser Trend einreißen, so dürfte noch manches schrille Elaborat bevorstehen.

Das quasi durch Elfmeterschießen oder „Golden Goal“ erkorene Mini-Drama, das im Kostüm einer TV-Seifenoper über die Bühne fegt, hat freilich nur das Zeug zur flotten Comedy. Da mag man das „Rasende“ des Textes noch so preisen. er rattert und tuckert doch eigentlich nur. Wortreich und besinnungslos beschreit er den Verlust der Körperlichkeit in den Computer-Netzen.

Hart und schnell wird abgerechnet

In des Autors eigener Inszenierung, die in Mülheim zu erleben war und die dem eindimensionalen und gelegentlich gar infantilen Text das wütende Tempo erst aufzwingt, mag dies noch halbwegs angehen. Doch damit dürfte die Sache auch schon an der Oberkante angelangt und „ausgespielt“ sein. Andere Bühnen sollten sich davor hüten.

Das harte Ringen der Jury kam nicht von ungefähr, denn es war diesmal eine weitgehend homogene, ziemlich durchwachsene Auswahl. Die Autor(inn)en der acht Beiträge, allesamt in den 60er Jahren geboren, haben fast durchweg ein neues Tempo ins deutsche Drama gebracht. Offenbar angestachelt von anglo-amerikanischen Vorbildern und den Benutzer-Oberflächen elektronischer Medien, wird hart und schnell mit dem ach so schrecklichen Dasein des Menschen abgerechnet.

Jury-Mitglied Susanne Schneider (ihres Zeichens Autorin) sprach vom „Triumph der kleinen Form“. Inhaltlich traf der ansonsten durch Arroganz glitzernde Robin Detje einen Kern: „Dramatiker, die über Selbstmord schreiben, wähnen sich offenbar schon auf der sicheren Seite.“

Lebensüberdruss gerät zum Lachstoff

Tatsächlich sah man in Mülheim etliches Elend und mancherlei Lebensüberdruss, der allerdings vielfach als Treibstoff für galgenhumoriges Lachtheater diente. Eine merkwürdige Mixtur. Achtbare Ausnahmen waren Moritz Rinke, der mit „Republik Vineta“ einen großen Entwurf im traditionellen Tonfall des Konversations-Theaters unternahm, und Roland Schimmelpfennig mit seinem zartsinnigen Traumspiel „Die arabische Nacht“, das denn auch bis kurz vor Schluss in der Jury-Debatte blieb.

Rasch aussortiert hatte man hingegen Igor Bauersimas „norway.today“, jenes mit suizidalen Gedanken zwar spielende, jedoch mit hier höchst seltener Hoffnung durchwirkte Drama, das die Publikumsstimme erhielt. Vielleicht ein Signal, auf das man hören sollte: Offenbar mögen sich selbst so versierte Zuschauer wie jene bei den Stücketagen nicht allzeit mit der ganzen Schwärze des Lebens befrachten lassen.

 

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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