Lebensmuster im Pullover – Rosemarie Trockel stellt in ihrer Geburtsstadt Schwerte aus

Von Bernd Berke

Schwerte. Das schlichte Foto, aufgenommen bei einer Klassenfahrt im Jahre 1966, zeigt zwei Mitschülerinnen. Meist verschwinden solche Erinnerungen in alten Kartons oder Alben und werden selten hervorgekramt. Ganz anders bei einer Künstlerin wie Rosemarie Trockel. Da lagern sich im Laufe der Zeit immer mehr Gedanken und Assoziationen an –und aus einem solchen Foto wird eine ganze Bilderserie.

Mit der Ausstellung ,„Gudrun“ (so heißt eine der Schulfreundinnen auf besagtem Foto) kehrt die hoch gehandelte Rosemarie Trockel abermals an ihren Geburtsort Schwerte zurück. Es ist die dritte Ausstellung, die ihr der rührige Kunstverein ausrichtet. Bei der jüngsten documenta in Kassel erregten Frau Trockel und Carsten Höller Aufsehen mit einem „Haus für Schweine und Menschen“, in Schwerte präsentiert sie nun einige Hundeporträts.

Zurück zum Foto mit jener Gudrun. Die trug damals einen Pullover mit Strickmuster, das wie eine Geheimschrift wirkt. Und so erwächst aus einer „Kleinigkeit“ mit den Jahren ein wahres Bilder-Geflecht mit Kreuz- und Querverweisen. Da taucht zunächst ein Bild des Revolutionärs Ernesto „Che“ Guevara auf, neben dem die Schauspielerin Barbra Streisand sitzt – bekleidet mit einem Pullover, der ähnlich gemustert ist wie damals der von Gudrun. Zufall oder mysteriöse Fügung?

Aus vier Fingern werden Hasenohren

„Che“ wiederum, Ikone der rebellischen 60er, macht beidhändig „Victory“-Zeichen. Seine vier gereckten Finger mutieren in einem der nächsten Bilder zu vier Häschen-Ohren in einer Art Witzzeichnung, die aber insgeheim vom weiblichen Gefühl des Bedrohtseins handelt. Sodann sieht man Gudruns Gesicht in zwei zeichnerischen Momentaufnahmen, und auch das Pullovermuster wird eigens wie unter der Lupe vorgeführt. Waltet hier ein Seh-Zwang? Etwa so: Überall mag sich etwas Entscheidendes verbergen, da heißt es wachsam bleiben und offen für jede Botschaft, für jede Inspiration.

Ins Muster des Pullovers könnte das Muster des ganzen Lebens eingewoben sein. Wer weiß, wer weiß.  Jedenfalls hat sich Rosemarie Trockel intensiv mit C. G. Jungs Lehre von den Archetypen (Urbildern) befaßt, die im kollektiven Unbewußten der Menschheit ihr ewiges Wesen treiben sollen.

Triebkräfte der Biographie

Trockels Bilderserien entstehen nicht nach Plan und Schema, sondern dann, wenn die Künstlerin visuelle „Bausteine vorfindet, die in verborgener Entsprechung zu den bisherigen Elementen stehen. Daraus ergibt sich ein rätselhaft-faszinierendes Puzzle, eine bildnerische Meditation über Details und Triebkräfte der eigenen Biographie, die ihre wichtigsten Impulse wohl in den 60er Jahren bekommen hat – damals, zu Gudruns Zeit.

Auch andere Bildreihen sind aus Keimen jener Jahre entstanden. Ein Foto zeigt eine diffuse Menschenmenge, wahrscheinlich im Londoner Hyde Park. Damit wäre das Kernthema freie Rede und somit der Befreiung angestimmt. Schicht um Schicht wird daraus eine Gruppe von Arbeiten, die just um den Freiheitsdrang kreisen, allerdings auch um dessen Pervertierung: Ein Paar, das sich der „freien Liebe“ erfreut, wird mit der Kamera aufgenommen wie für einen Pornostreifen.

Alles Sichtbare ist beseelt

In vier Trockel-Videofilmen, die man sich in Schwerte ansehen kann, findet man Motiv-Partikel der Tafelbilder wieder. In die wandelbaren Punkt-Raster einer gefilmten Vogelschar, die sich zum Flug nach Süden sammelt, löst sich auch die erwähnte Liebesszene auf, und eine Art Chaostheorie wird mit Wollknäueln durchgespielt. Womit man wieder beim Pullover wäre.

Und die Hunde? Rosemarie Trockel hat ihren Terrier „Fury“, dessen Hunde-Freundin sowie – als lokale Zugabe – Vierbeiner aus Schwerte so einläßlich porträtiert, als seien es bedeutende Menschen. Wenn schon Pullover beseelt sind, dann erst recht die Tiere.

Rosemarîe Trockel. Kunstverein Schwerte, Kötterbachstraße 2. Bis 9. November (geöffnet Di-Fr 16-19 Uhr, So 15-18 Uhr).

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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